Fundamentaltheologe zum 300. Geburtstag des wirkmächtigen deutschen Philosophen

Striet zu Kant: Autonomiedenken macht Glauben nicht überflüssig

Veröffentlicht am 22.04.2024 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Immanuel Kant war einer der wichtigsten deutschen Philosophen. Seine Denkweise fordert die katholische Theologie heraus – und birgt daher großes Konfliktpotenzial mit dem römischen Lehramt. Im katholisch.de-Interview erklärt der Fundamentaltheologe Magnus Striet, was Kant spannend macht.

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Immanuel Kant war einer der wirkmächtigen deutschen Denker. Sein Werk kennzeichnet einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte – und brachte nicht nur die katholische Kirche gegen ihn auf: Laut Kant liegt moralisches Handeln allein in der Autonomie des Menschen begründet. Vor 300 Jahren, am 22. April 1724, kam er zur Welt. Warum seine Denkweise für die katholische Theologie trotz römischer Vorbehalte spannend ist, ob die Kant-Rezeption Schuld an den Konflikten zwischen Rom und Deutschland ist und wie viel von ihm im deutschen Reformprojekt des Synodalen Wegs steckt – darüber spricht der Freiburger Fundamentaltheologe und Kant-Kenner Magnus Striet im Interview.

Frage: Herr Striet, es gibt Konflikte zwischen Rom und Deutschland über manche Lehrfragen, nicht erst seit dem Synodalen Weg: Wie viel "Schuld" daran hat Immanuel Kant und seine Rezeption?

Striet: Kants Denkweise hat ein enormes Konfliktpotenzial bezogen auf das römische Lehramt. Zum einen hat er sehr dezidiert betont, dass die bis dahin für überzeugend gehaltenen Gottesbeweise nicht funktionieren. Daher wird der Glaube für Kant zu etwas Hypothetischem. Er bleibt theoretisch möglich, aber er ist nicht mehr zwingend. Zum anderen, und das birgt vielleicht noch größeres Konfliktpotential in sich: Kant hat entschieden darauf bestanden, dass ich nicht die Idee eines höheren Wesens, sprich Gottes haben muss, um zu wissen, dass ich moralisch handeln soll. Es ist sogar das Gegenteil der Fall. Moralisch handele ich nur dann, wenn ich aus mir selbst heraus will, dass von mir als vernünftig eingesehene Gesetze für mich gelten sollen. Für Kant müssen diese Gesetze aber – da war er absolut entschieden – die Gesetze eines jeden Menschen sein können.

Frage: Was macht dann Kants Denkweise für die katholische Theologie so spannend?

Striet: Sie ist so spannend, weil das immer noch recht zerrüttete Verhältnis zwischen liberaler Moderne und katholischer Kirche über sie überbrückt werden könnte. Denn bis heute heißt der Zankapfel Autonomie.

Frage: Was ist für Sie an Kant das Bahnbrechende?

Striet: Das Bahnrechende ist, dass er letztlich wieder an biblische Denkfiguren anschließt. Wenn man in biblische Zeiten zurückgeht, so ist zu beobachten, wie dem geglaubten Gott immer robuster Restbestände von Willkür genommen werden. Es entwickelt sich so etwas wie ein ethischer Monotheismus. Kant hat strikt an der Vorstellung des einen und einzigen Gottes festgehalten, gut biblisch, und an einem Gott, der moralisch und der Inbegriff von Heiligkeit ist, auch gut biblisch. Allerdings bleibt bei ihm und ausgeprägter noch bei den Kantianern von heute die Skepsis, ob dieser Gott existiert.

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Immanuel Kants Denkweise könnte das nach wie vor zerrüttete Verhältnis zwischen liberaler Moderne und katholischer Kirche überbrücken, sagt Magnus Striet.

Frage: Sie haben es angesprochen: Gerade Kants Autonomiebegriff macht ihn aus Sicht des römischen Lehramts gefährlich. Warum aus Ihrer Sicht zu Unrecht?

Striet: Wenn der Mensch nur dann moralisch sein kann, wenn er an sich nicht einmal das Bedürfnis entdeckt, den Grund hierfür aus Gott abzuleiten, so steht dies konträr zu römischen Lehrtraditionen. Noch ausschlaggebender ist, dass das Lehramt bis heute unter Autonomie Willkür versteht. Aber das hat überhaupt nichts mit Kant zu tun. Autonomie ist Selbstgesetzgebung der Vernunft, aber – und das ist für Kant entscheidend – die Vernunft ist nur dann vernünftig, wenn sie davon ausgehen kann, dass ein jeder andere Mensch sich gleichermaßen bestimmen könnte. Das hat gerade nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern genau das Gegenteil ist der Fall. Das führt in eine absolut verbindliche Ethik hinein, die jeden Menschen einschließt.

Frage: Für Kant gilt: Gott entspringt aus der Moral und nicht umgekehrt. Was bedeutet das?

Striet: Wenn wir ohnehin nicht wissen, ob Gott existiert, dann bedeutet das natürlich, dass wir am Ende immer auch an den Gott glauben, den wir für Gott halten. Wenn wir uns nun selbst als moralische Wesen wollen, in jedem Menschen den anderen Menschen mit einer unveräußerbaren Würde zu sehen, so können wir den geglaubten Gott nicht aus der Pflicht entlasten, dies ebenfalls zu tun. Können wir einen Gott wollen, der nicht moralisch ist? Kant war zugleich ein Realist mit einem klaren Blick auf die Welt und ihre Geschichte. Gott brauche ich für ihn nicht, um zu wissen, was ich zu tun habe. Aber ich brauche ihn, wenn ich die Toten nicht bereits jetzt endgültig für tot erklären und darauf hoffen will, dass das zum Himmel schreiende Unrecht nicht bis in alle Ewigkeit bestehen soll.

Frage: Was bedeutet das dann für den christlichen Gottesglauben?

Striet: Kant hat in sehr scharfer Weise das Konzept eines stellvertretenden Sühnetods Christi einer Kritik unterzogen – und ich meine auch berechtigterweise. Ein anderer Punkt ist die augustinische Erbsündenlehre: Auch die lässt sich nach Kant nicht mehr denken. Aber nochmals, damit wird der Gottglaube ja nicht überflüssig – ganz im Gegenteil. In einem auf Autonomie umgestellten Denken wird der Glaube nicht obsolet, er findet einen anderen Ort. Für Kant ist es moralisch notwendig, Gottes Dasein zu postulieren. Es anzunehmen ist nicht willkürlich, entspringt keiner momentanen Stimmungslage oder einer narzisstisch verengten Religiosität, sondern ist für ihn vernunftnotwendig. Ohne einen allmächtigen Gott bleiben die Toten tot. Aber behauptet der christliche Glaube mit Paulus nicht gerade, Gott habe den Gekreuzigten auferweckt und deshalb würden auch wir auferweckt werden? Das Evangelium vom Auferweckten und Kant gehen wunderbar zusammen.

„In einem auf Autonomie umgestellten Denken wird der Glaube nicht obsolet, er findet einen anderen Ort. Für Kant ist es moralisch notwendig, Gottes Dasein zu postulieren.“

—  Zitat: Magnus Striet

Frage: Aber wie lässt sich das Ganze mit Offenbarung zusammendenken?

Striet: Das ist das größere Problem. Folge ich Kant, so muss jedenfalls bleiben: Was wir Offenbarung nennen, ist eine Interpretation des Lebens und des Sterbens Jesu. Das, was nächstes Jahr gefeiert werden wird, nämlich 1.700 Jahre Konzil von Nizäa, ist rückblickend betrachtet der Versuch, dem Leben und der Person Jesu Bedeutung abzugewinnen. In der christlichen Lehrtradition ist die Überzeugung entstanden, wahrer Mensch und wahrer Gott. In der Tradition von Nizäa spricht man ja nicht einmal nur von Offenbarung, sondern davon, dass Gott selbst sich als dieser Mensch geoffenbart habe. Ohne diese Überzeugung aufgeben zu müssen, wird man sie im Lichte Kants als eine mögliche Interpretation bezeichnen müssen. Kant selbst hat die Möglichkeit einer geschichtlichen Offenbarung zwar nicht ausgeschlossen, wohl selbst allerdings wenig mit einer solchen gerechnet. Für ihn war Jesus das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit. Das ist etwas anderes, als in ihm den Gottmenschen zu erkennen. Mit Kant lässt sich die Frage nach einer geschichtlichen Offenbarung aber zumindest offen halten.

Frage: Inwiefern wäre denn Kants Denken vereinbar mit einer klassischen katholischen Dogmatik?

Striet: Ich sage es mal so: Wenn sich eine klassische katholische Dogmatik mit Kants Anfragen auseinandersetzte, würde sie vermutlich einen erheblichen Korrekturbedarf an historisch gewachsenen Denkmustern bemerken. Die christliche Theologiegeschichte, jedenfalls des Westens, ist komplett abhängig vom späten Augustinus und dessen Erbsündenkonstrukt: dass alle durch den Fall Adams verloren gegangen sind und es deshalb den stellvertretenden Sühnetod Christi am Kreuz brauchte, damit Gott sich mit der Menschheit wieder versöhnen konnte. So schroff wird dies zwar nur von Außenseitern vertreten. Ob die abgemildeteren Erlösungslehren deshalb schon überzeugender sind, wäre zu diskutieren. Wenn man das Sühnetodkonzept mit Kant in Verbindung setzt, könnte man zu dem Schluss kommen, die Erlösungslehre komplett neu denken zu müssen.

Im Übrigen finden sich bei ihm Überlegungen zum Anfang der Menschheitsgeschichte, die bereits auf Charles Darwin vorblicken lassen. Ob diese Anfragen theologisch verarbeitet sind, ist die Frage. Und wenn man sich auf Kants Autonomiemoral einlässt, so gerät man in einen schweren Konflikt mit dem, was sich bis heute in Fragen der Sexualmoral im Weltkatechismus findet. Natürlich war Kant auch Kind seiner Zeit. Bestimmte Fragen stellten sich ihm schlicht noch nicht. Gleichwohl prägt er bis heute – und noch mehr prägen womöglich die, die in seinen Spuren weitergedacht haben, um so dem ethischen Universalismus, der in Kants Denken steckt, auf die Gegenwart hin zu konkretisieren. Sich mit Kant zu beschäftigen, inspiriert ethisch und dogmatisch. Der historische Prozess ist offen. Und warum soll nicht theologisch und kirchenamtlich doch noch Korrekturbedarf erkannt werden?

Synodalversammlung
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Jede Menge Kant steckt im Synodalen Weg, meint Striet: "Gerade in den Punkten, wo es um Selbstbestimmungsrechte von Menschen geht, solange die Rechte anderer, also Dritter, nicht verletzt werden."

Frage: Wie viel Kant steckt im Synodalen Weg?

Striet: Jede Menge, gerade in den Punkten, wo es um Selbstbestimmungsrechte von Menschen geht, solange die Rechte anderer, also Dritter, nicht verletzt werden. Es ist völlig klar: Wenn man sich erst einmal auf das Autonomiedenken eingelassen hat, so kann man lehramtliche Überzeugung nicht mehr nur deshalb übernehmen, weil das Lehramt diese ausformuliert hat. Stattdessen muss man selbst prüfen, ob die vorgetragenen Gründe überzeugen. Wenn sie das nicht tun, darf man sie nicht übernehmen. Das ist Kant. Bezogen auf den Synodalen Weg kann man sehr genau beobachten, wie dies de facto in Anspruch genommen wird.

Frage: Kant ist das Paradebeispiel dafür, dass sich die Kirche mit der Rezeption der neuzeitlichen Philosophie schwertut. Wo gäbe es da Ansätze?

Striet: Auch wenn ich hier ein wenig "pro domo" spreche, so wird man wohl sagen dürfen, dass es der Dogmatiker Thomas Pröpper (1941-2015) war, im Übrigen ein ehemaliger Assistent Walter Kaspers in Tübingen, der neuzeitliche Philosophie in der katholischen Kirche am entschiedensten zur Geltung gebracht hat. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Walter Kasper einmal öffentlich gesagt, dass man theologisch hier weiterarbeiten müsse. Wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, so würde es dennoch stimmen.

Von Matthias Altmann