Petra Pau: Christentum und Sozialismus lassen sich vereinbaren
Die Linken-Politikerin Petra Pau sieht viele positive Veränderungen bei den Kirchen: Diese seien in der Lebenswirklichkeit angekommen, sagt die langjährige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags im Gespräch. Mancher alte Zopf gehöre aber noch abgeschnitten – etwa beim kirchlichen Arbeitsrecht.
Frage: Frau Pau, man kennt Sie als engagierte linke Politikerin, aber Sie sind auch eine Autorin mit dem Hang zu religiösen Titeln. Vor einigen Jahren erschien "Gottlose Type. Meine unfrisierten Erinnerungen", während der Pandemie "Gott hab sie selig. Neue Anekdoten von anomal bis digital". Warum dieses Faible für Gott?
Pau: Na gut, das sind zwei unterschiedliche Dinge. In den Büchern geht es nicht so sehr um Glaubensfragen, sondern um Beobachtungen, Anekdoten. Die "gottlose Type" war ich selbst – jedenfalls aus Sicht des CSU-Politikers Peter Ramsauer. Ende 2004 wollten CDU/CSU, SPD und FDP mit Hilfe der Grünen vor Weihnachten per Abstimmung noch schnell das sogenannte Hartz-IV-Gesetz durchpeitschen. Ich war dagegen und bat um Verschiebung. Ramsauer fürchtete wohl um das Fest der Besinnung – daher sein böser Zwischenruf im Plenarsaal. Wenn man heute sieht, wie viele Menschen das Gesetz in Armut getrieben hat, waren meine Sorgen wohl nicht ganz unbegründet.
Frage: Vielleicht sogar christlich-sozial?
Pau: Ich bin schon seit vielen Jahren mit dem Motto "Einer trage des anderen Last" unterwegs. Das überrascht im Westen immer wieder. Im Osten leben – laut Klischee – schließlich nur Gottlose, Atheisten oder was weiß ich für Typen, und plötzlich kommt ausgerechnet die Frau Pau von der "Linken" daher und zitiert Bibelworte. Ungeheuerlich.
Frage: In der DDR wurden Sie getauft und konfirmiert, traten jedoch in der zehnten Klasse aus der Kirche aus. Was waren damals Ihre Beweggründe?
Pau: Das war einerseits Rebellion zu Hause, andererseits gab es Probleme mit der Institution Kirche.
Frage: Was müsste passieren, dass Sie wieder eintreten?
Pau: Ich habe bisher keine Gelegenheit gesucht und gefunden, wieder einzutreten, würde mich aber nicht als ungläubigen Menschen bezeichnen. Ich habe einen guten Kontakt zu Geistlichen beider Konfessionen und darüber hinaus Lebenssituationen erlebt, während derer ich zur Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg gegangen bin.
Frage: Sie meinen, Sie haben sich selbst beim Gebet erwischt?
Pau: So etwas kann passieren.
Frage: Gibt es etwas, das Sie an gläubigen Menschen fasziniert?
Pau: Ich respektiere nicht nur, was die Seelsorger leisten, sondern auch, was Menschen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen tun. Menschen, die durch ihren Glauben ihren Beruf und ihre Berufung gefunden haben. Das finde ich ausgesprochen wichtig.
Frage: Glauben Sie, dass Sozialismus und Christentum sich vereinbaren lassen?
Pau: Unbedingt. Es gibt einen Film, der mich sehr geprägt hat. Er trägt, daher mein Motto, den Titel "Einer trage des anderen Last" und wurde von Lothar Warneke nach einem Entwurf von Wolfgang Held gedreht. Er kam 1988 in die DDR-Kinos. Der Film erzählt die Geschichte von zwei jungen Männern, die beide sehr krank sind. Der eine ist Kommunist und Grenzpolizist, der andere angehender evangelischer Vikar. Sie müssen im Krankenzimmer, in einem Sanatorium miteinander auskommen. Da prallt viel aufeinander, sowohl an Vorurteilen, die man mit sich herumträgt, aber auch existenzielle Fragen. Dieser Film war keine Schmonzette, sondern großes Kino.
Was ich damit sagen will: Mir ist ziemlich egal, woher jemand seine Motivation für friedliche Politik und soziale Gerechtigkeit nimmt, ob aus dem "Kapital" von Karl Marx oder etwa aus dem Buch "Das Kapital" von Kardinal Reinhard Marx, was ich auch gelesen habe. Was zählt, ist der Respekt vor dem Menschen sowie der Einsatz für soziale Gerechtigkeit und Friede.
Frage: Wenn Sozialismus und Christentum vereinbar sind, wieso wurden dann viele Christen in der DDR wegen ihres Glaubens bei der Ausbildung schikaniert und bespitzelt?
Pau: Ich habe mich seit 1990 sehr bewusst auf den Weg gemacht mit all der Schuld, die nicht nur die SED betrifft, sondern die man auch als Mitglied auf sich geladen hat, und sei es auch nur, weil man nicht nachgefragt hat oder nicht weiter gedacht hat an bestimmten Stellen. Die Nachfolgepartei PDS hat sich damals ebenfalls auf den Weg gemacht, auch mit einer Entschuldigung gegenüber Christinnen und Christen in der DDR.
Frage: Nun ist es eine Sache, sich zu entschuldigen, eine andere Sache ist es, Opfer zu entschädigen.
Pau: Als ich 1998 in den Bundestag gewählt wurde und Mitglied des Innenausschusses des Bundestages wurde, habe ich mich nicht nur mit Fragen von Flucht, Asyl oder öffentlicher Sicherheit beschäftigt, sondern war für meine Fraktion, die PDS, auch die zuständige Berichterstatterin für die damalige Novelle des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes. Es ärgert mich, dass zwei Teile des Gesetzes bis heute nicht zu Ende geklärt sind. Da ist einmal das Unrecht, was Schülerinnen und Schülern in der DDR zugefügt wurde. Ich denke hier etwa an die Mitglieder der Jungen Gemeinde, denen versagt wurde, Abitur zu machen und zu studieren. Wegen ihres Glaubens wurden sie verfolgt. Man kann verpasste Lebenschancen nicht wiedergutmachen, man kann das aber moralisch anerkennen, man kann auch materiell helfen.
Frage: Und der zweite Teil?
Pau: Es gibt Menschen, die wegen ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung in der DDR-Haft gesundheitliche Schäden davongetragen haben – seelisch und körperlich. Für diese Menschen habe ich mich persönlich eingesetzt, aber auch im Auftrag von PDS und der Linken. Ich bin nicht zufällig religionspolitische Sprecherin der Fraktion geworden. Dass es heute Christinnen und Christen in der Partei gibt, ist ein gutes Zeichen. Auch wenn die Aufarbeitung nie zu Ende ist, und ich deshalb das Wort Bearbeitung vorziehe.
Frage: Was für einen Tipp würden Sie den Kirchen geben, um ihr angeschlagenes Image zu verbessern?
Pau: Ich war oft auf Kirchentagen und werde auch beim Katholikentag in Erfurt sein. Ich sehe viele positive Veränderungen bei den Kirchen: Sie sind in der Lebenswirklichkeit angekommen. Auch wenn mancher alte Zopf noch abgeschnitten gehört – etwa beim kirchlichen Arbeitsrecht. Aber die Richtung stimmt. Wichtig ist, dass das, was man sagt und lehrt, einen Sitz im Leben hat. Ich bin zum Beispiel Mitglied der Berliner Tafel "Laib und Seele". Ich finde auch gut, wie sich Pfarreien oder Gemeinschaften in der Stadtteilarbeit engagieren. Da fallen mir die Schwestern von Don Bosco ein, aber auch unsere katholische Gemeinde "Verklärung des Herrn".
Frage: Nun hat jede Religion auch Schattenseiten, oder?
Pau: Sicherlich. Alles kann missbraucht werden. Es macht mir Sorgen, wenn ich lese, wie junge Muslime via Social Media fanatisiert werden. Es hat auch nichts mit Religion zu tun, wenn am 7. Oktober auf der Sonnenallee oder sonst wo getanzt wird und Süßigkeiten verteilt werden. Ebenso wenig geht es um Religion, wenn Mitglieder einer bestimmten Partei beim Europawahlkampf eine Art deutsches Christentum populär zu machen versuchen. Versehen mit antisemitischen Elementen. Das ist auch Missbrauch. Umso mehr freue ich mich über die aktuellen Äußerungen der Bischöfe zu dieser Partei und die klare Abgrenzung. Niemand soll dem anderen reinreden, was er wählt und wen er wählt, aber deutlich zu machen, was dort verkündet wird und wie der Glaube dadurch missbraucht wird, das hat meinen Respekt. Da bin ich mit dabei.