Himmelklar – Der katholische Podcast

Missbrauchsbeauftragte: Prävention häufig nicht fachlich fundiert

Veröffentlicht am 15.05.2024 um 00:30 Uhr – Von Renardo Schlegelmilch – Lesedauer: 

Köln ‐ Ihr Amt existiert seit 2010, seit 2022 ist sie die dritte auf dieser Position und das erste Mal selbst eine Betroffene: Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, spricht im Interview über die Rolle der Kirche in ihrer Arbeit.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Warum tut der Staat nicht mehr gegen sexuellen Missbrauch? Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und selbst Betroffene, ist mit der Rolle der Kirche alles andere als zufrieden. Im Interview kritisiert sie unter anderem die Rolle katholischer Laien und das "Verantwortungs-Pingpong" zwischen Kirche und Staat. 

Frage: Wenn wir über das Thema sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft sprechen, dann kommen wir an der katholischen Kirche nicht vorbei. Das ist auch der Anlass, warum Ihr Amt überhaupt existiert. Im Jahr 2010 wurde es eingerichtet, nachdem die ersten großen Fälle sexualisierter Gewalt in der deutschen Kirche öffentlich geworden sind. Wie viel Prozent Ihrer Arbeit nimmt der kirchliche Kontext heute ein?

Claus: Das ist schwierig zu sagen, weil es Phasen sind, in denen es mal intensiver und mal weniger ist. Ich würde aber sagen im Querschnitt sind das in einer Arbeitswoche keinesfalls mehr als ein bis zwei Stunden.

Frage: Das überrascht mich jetzt.

Claus: Das habe ich vermutet. Das liegt daran, dass es zum einen 2010 nicht allein mit den Kirchen losgegangen ist, sondern parallel zum Beispiel die Odenwaldschule ein großes Thema war. Andere Tatkomplexe und Tatorte, wie zum Beispiel Strukturen des Sportes oder der Schulen, da hat es vielfach länger gedauert. Die öffentliche Debatte reflektiert sehr stark alle Vorgänge rund um Kirchen. Das ist aber natürlich auch dem geschuldet, dass die Fallhöhe im Kontext Kirche eine besondere ist. Die katholische Kirche ist ja eine etwas abgeschlossene Gesellschaft, wenn man an Kleriker denkt und an Bereiche, in die von außen nicht gut hineingeschaut werden kann.

Mit der Schaffung dieses Amtes 2010 wurden die Bereiche vielfältig sehr schnell viel breiter. Wenn man sich heute anschaut, wie groß zum Beispiel die digitale Welt ist, wie sehr Kinder und Jugendliche auch im Sozialleben nicht nur analog aufwachsen, sondern auch digital, dann kann man sich vorstellen, dass schon allein die Frage der Prävention, des Schutzes vor sexueller Gewalt, eine enorme ist: Wie schaffe ich es, dass Kinder in allen Bereichen außerhalb der Familie mit einer gewissen Grundhandlungskompetenz in Schule, in Vereinen usw. begleitet werden? Das sind sehr viele, sehr dicke Bretter. Deswegen ist Kirche auch nicht ein alleiniger Fokus, auch wenn es ein gewisser Schwerpunkt ist und wenn es immer wieder Phasen gibt, wo Kirche doch auch sehr dominant sein kann in meinem Amt.

Bild: ©picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm

Kerstin Claus, unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für sexuellen Missbrauch.

Frage: Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie denn mit dem Engagement der Kirchen, wenn es um das Thema Aufarbeitung geht? Gerade in der Öffentlichkeit gibt es häufig berechtigte Kritik daran, dass nur das zugegeben wird, was man nicht mehr bestreiten kann.

Claus: Es sind viele Facetten, mit denen ich nicht zufrieden bin. Für die Evangelische Kirche wurde gerade im Januar die ForuM-Studie veröffentlicht, also das Äquivalent der katholischen MHG-Studie. Das Erschreckendste daran war, wie groß die Abwehrhaltung ist, Prävention im Sinne von Schutzkonzepten in Gemeinden tatsächlich einzuführen. Man muss sich immer klarmachen: Wenn ich heute sexuelle Gewalt verhindern möchte, dann muss ich das vor Ort tun, wo Kinder und Jugendliche sich auch im Rahmen der Kirche bewegen. Wenn ich dann auf beide Kirchen schaue, dann sind die Präventionsanstrengungen unterschiedlich. Sie sind häufig unterschiedlich gut in den einzelnen Gemeinden. Sie sind häufig nicht fachlich fundiert. Das heißt, selbst da, wo gesagt wird, "in Prävention investieren wir viel", hat jetzt zum Beispiel für die evangelische Seite diese Studie festgestellt: Im gemeindlichen Kontext passiert da noch herzlich wenig. Das muss besser werden. Das finde ich erschreckend.

Wenn ich dann auf die andere Seite schaue: Wie geht man mit Betroffenen um, die berichten, dass sie in der Vergangenheit sexuelle Gewalt im Kontext der Kirche erlebt haben? Egal ob das ein gemeindliches Setting, ein Kirchenchor oder eine kirchliche Schule war, wir merken, wir sind noch weit davon entfernt, dass Betroffene sich auf eine verlässliche Qualität berufen können – im Umgang, aber auch in der Frage der Anerkennung.

Frage: Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, dass Kirche im Bereich Aufarbeitung und Prävention Vorreiter ist gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen, wo man sich noch gar nicht traut, das Thema wirklich anzugehen. Kann man das nicht auch so sehen?

Claus: Beides ist wahr. Trotzdem ist die Frage: Reicht es, was es momentan gibt und was getan wird? Was ich erlebe, ist, dass immer wieder gesagt wird: Jetzt haben wir diese Studie und dieses Bistum hat noch jene Studie gemacht und jetzt muss es doch gut sein. Studien ersetzen nicht Aufarbeitung. Wenn ich mir für die katholische Kirche anschaue, wie lange es gedauert hat, bis auch die Laien angefangen haben, sich zu diesem Thema zu verhalten, dann bin ich im Jahr 2019/2020. Da war dieser sogenannte Missbrauchsskandal der katholischen Welt schon seit 2010 in einer dauerhaften medialen Beschallung. Die Laien hatten sich trotzdem sehr zurückgehalten und immer wieder das Bild verbreitet, das sei ein Problem von Kirchenleitung und Klerikern. Aber Kleriker agieren ja nicht in einem Raum, in dem es nicht genau diese Laien gibt, die hinschauen hätten können, die vielleicht Systeme von Missbrauch mitgetragen haben. Wie oft heißt es im Nachhinein, hinter vorgehaltener Hand hätte man sich da schon irgendwie mal ausgetauscht, dass etwas eigenartig ist.

„Wenn ich dann auf beide Kirchen schaue, dann sind die Präventionsanstrengungen unterschiedlich. Sie sind häufig unterschiedlich gut in den einzelnen Gemeinden. Sie sind häufig nicht fachlich fundiert.“

—  Zitat: Kerstin Claus

Wir kommen doch erst dann weiter, wenn tatsächlich eine Rückkopplung auf die gemeindliche Ebene stattfindet. Es ist nicht die einzelne Studie, kein einzelner Bischof, der sich mehr oder weniger glaubhaft entschuldigt, sondern es ist die Anstrengung aller, die ein System, hier das System Kirche, prägen. Gleichzeitig stimmt es, dass andere Strukturen und andere Settings vielfach noch gar nicht wirklich angefangen haben, dass wir im Bereich der Jugendhilfe, auch im Bereich der Schulen diesen Aufschrei noch nicht gehört haben, wie wir ihn bezogen auf die katholische und jetzt auch die evangelische Kirche gehört haben.

Frage: Trotzdem liegt die eigentliche Aufarbeitung bei der Institution Kirche selber. Das wäre so als ob VW selber für die Aufklärung seines Abgasskandals verantwortlich wäre. In Australien hat eine "Royal Commission" den Missbrauchsskandal aufgearbeitet. Aus strukturellen Gründen ist das in Deutschland nicht möglich, aber müsste nicht der Staat in irgendeiner Form da mehr den Finger in die Wunde legen?

Claus: Da haben Sie vollkommen recht. Das deutsche Rechtssystem gibt manche Optionen schlicht nicht her. Das führt auch zu einem teilweise immer wieder verräterischen Pingpong-Spiel, in dem die Kirche sagt: Mensch, wenn der Staat mehr tun würde, dann wären wir ja dabei. Das ist letztlich eine Form von Verantwortungsdelegation, die nicht funktionieren kann, weil der Staat im System der Bundesrepublik Deutschland bestimmte Zugriffs- und Eingriffsrechte nicht hat. Und die Kirche würde sich da auch sehr verweigern und verwehren, wenn der Staat da eingreifen möchte.

Frage: Was kann man da tun?

Claus: In meinen Augen gibt es drei Elemente. Das erste Element ist: Kirchliche Strukturen müssen bestmöglich Kirchengesetze dahingehend anpassen, dass es ein klares Recht auf Aufarbeitung und Qualitätsstandards im Bereich von Aufarbeitung mit verankert. Es wird ohne diese kirchengesetzlichen Anpassungen in meinen Augen nicht gehen. Das ist eine Form des Durchdeklinierens, die es braucht. Gleichzeitig muss damit ein individuelles Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung einhergehen – sowohl gegenüber Institutionen als auch insgesamt. Das ist eine Stärkung von Betroffenen, von der ich mir erwarte, dass sie auch das Gesetz zur Stärkung meines Amtes ein Stück weit leistet, dass im Koalitionsvertrag verankert ist und sich im Moment in der Umsetzung befindet.  Dann kommt die Frage des Staates, und da sage ich: Es braucht ein Monitoring für Aufarbeitung. Es braucht eine Ombudsstelle oder viele Ombudsstellen, wo Betroffene sich hinwenden können und sagen können: Jetzt habe ich das hier bei der Kirche angezeigt, ich habe dieses und jenes gemacht, aber es passiert nichts.

Bild: ©KNA

"Kirchliche Strukturen müssen bestmöglich Kirchengesetze dahingehend anpassen, dass es ein klares Recht auf Aufarbeitung und Qualitätsstandards im Bereich von Aufarbeitung mit verankert. Es wird ohne diese kirchengesetzlichen Anpassungen in meinen Augen nicht gehen", meint Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus.

Frage: Sie haben von "Verantwortungs-Pingpong" gesprochen. Ein Argument aus kirchlichen Kreisen: Wir als Kirche würden ja gerne, aber in der Politik will sich niemand dieses unattraktive Thema sexualisierte Gewalt ans Bein binden und damit assoziiert werden. Ist da Ihrer Meinung nach etwas dran oder ist das nur ein vorgeschobenes Pseudoargument?

Claus: Ich würde sagen, auch das sind Entwicklungen. Wenn ich heute im parlamentarischen Raum unterwegs bin, dann erlebe ich eine hohe Aufgeschlossenheit und ein hohes Interesse für dieses Thema. Mir begegnen Abgeordnete, die sagen, das sei das Thema, weswegen sie sich in den Bundestag haben wählen lassen. Die Resonanz, die ich bekomme, ist immer wieder eine gewisse Ratlosigkeit bezogen auf: Wie kann ich als Staat einwirken auf Kirche? Hier gehe ich fest davon aus, dass die gesetzliche Verankerung meines Amtes und Regelungen zur Aufarbeitung wie auch für Fragen der Prävention und verbindliche Rahmenbedingungen dieses Vakuum ein Stück weit auflösen.

Ich glaube aber auch, dass das nicht das Ende sein wird. Was uns bisher tatsächlich fehlt, ist eine Anerkennungskultur. Wenn wir über die Millionen Betroffenen in den letzten Jahrzehnten sprechen, wenn man das alles nach den Annäherungswerten, die es gibt, zusammenrechnet und hochrechnet, wenn wir uns diese immense Zahl anschauen, dann wundert man sich schon, dass es die besondere Stunde im Bundestag zum Beispiel unter Einbeziehung von Betroffenen sexueller Gewalt noch nicht gegeben hat. Diese Debatte hat im Abgeordnetenhaus bisher so noch nicht stattgefunden.

Deswegen bin ich froh, dass das Gesetz eine Berichtspflicht meines Amtes gegenüber dem Deutschen Bundestag verankern soll. Ich bin der festen Überzeugung, das muss im Bundestag von allen gehört und bearbeitet werden, was wir tun können, um heute besser zu schützen, was wir aber auch im Sinne einer Anerkennungskultur leisten können und müssen. Denn da stecken ja vielfältig wahnsinnige Lebensleistungen von Betroffenen dahinter, trotz dieser Gewalt, die sie erlebt haben, trotz oft jahrelangen sexuellen Missbrauchs so weit gekommen zu sein, wie sie eben individuell gekommen sind. Wir sind gesellschaftlich bisher nicht gut darin, anzuerkennen, was für individuelle Leistungen vollbracht werden.

Von Renardo Schlegelmilch