Neue Wunder-Regeln: Vatikan bei Übernatürlichem künftig skeptischer
Die Kirche ist künftig skeptischer bei der Bewertung von Wundern. Eine kirchenamtliche Bestätigung, dass ein angebliches Wunder übernatürlichen Ursprungs ist, wird es gemäß den am Freitag veröffentlichten neuen "Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene" in der Regel nicht mehr geben. Anstelle der Bewertung, dass ein Wunder vorliegt oder nicht, tritt künftig eine differenzierte Bewertung in sechs Kategorien. Außerdem legt die Regelung des Glaubensdikasteriums ein detailliertes Verfahren fest, nach dem Diözesanbischöfe angebliche Wunder überprüfen und wie eine ungebührliche Verehrung und Auswüchse der Frömmigkeit verhindert werden sollen. Die neuen Regeln treten am Pfingstsonntag in Kraft und ersetzen die vorherigen aus dem Jahr 1978.
In einer ausführlichen Einleitung erläutert der Präfekt des Glaubensdikasteriums, Kardinal Víctor Manuel Fernández, den Hintergrund der neuen Regeln. Als Beispiele für mögliche übernatürliche Geschehnisse werden "behauptete Erscheinungen, Visionen, innere oder äußere Einsprechungen, Schriften oder Botschaften, Phänomene im Zusammenhang mit sakralen Bildern, psychophysische und andere Phänomene" genannt. Es sei die Aufgabe der Kirche, diese Phänomene sorgfältig zu untersuchen und zu beurteilen.
Niemand muss an Wunder glauben
Selbst wenn es keine Einwände gegen ein Wunder gibt, "werden solche Phänomene nicht zum Glaubensgegenstand – das heißt, die Gläubigen sind nicht verpflichtet, ihnen Glaubenszustimmung entgegenzubringen". Laut Angaben des Glaubensdikasteriums wurden seit 1950 nur sechs Phänomene geklärt. Das Abrücken von einer ausdrücklichen Feststellung eines Wunders als übernatürliches Phänomen wird daher auch damit begründet, dass so schneller Gewissheit erlangt werden kann, wie Frömmigkeitspraktiken umgegangen werden muss, die mit angeblichen Wundern verbunden sind.
Fernández betont, dass alles, was Gott offenbaren wollte, durch seinen Sohn Jesus Christus offenbart wurde, und dass allen Getauften in der Kirche die "Mittel der Heiligkeit" zur Verfügung stehen. Dennoch könne der Heilige Geist einzelnen Menschen besondere Glaubenserfahrungen schenken. Diese Erfahrungen seien nicht dazu da, die endgültige Offenbarung Christi zu vervollkommnen, sondern sollen dabei helfen, tiefer aus dieser Offenbarung zu leben.
Von "nihil obstat" bis "verbieten und abschaffen"
Die neuen Normen sind mit gut 15 Seiten etwa viermal so lang wie die bisherigen Regelungen. Die höchste Stufe, in die nun eine mutmaßlich übernatürliche Erscheinung eingruppiert werden kann, ist das "nihil obstat". Auch in dieser Kategorie wird keine Gewissheit über die übernatürliche Echtheit des Phänomens festgestellt, sondern lediglich "viele Anzeichen für ein Wirken des Heiligen Geistes 'inmitten' einer bestimmten spirituellen Erfahrung" bei gleichzeitiger Abwesenheit von kritischen oder riskanten Aspekten. "Aus diesem Grund wird der Diözesanbischof ermutigt, den pastoralen Wert dieses geistlichen Angebots zu würdigen und auch dessen Verbreitung zu fördern, auch durch mögliche Pilgerfahrten zu einem heiligen Ort", so die Normen.
Die weiteren Kategorien werden in Vorsichts- und negative Entscheidungen unterschieden. Drei Vorsichts-Kategorien stehen zur Verfügung, wenn das Phänomen zwar grundsätzlich positiv bewertet wird, es aber problematische Aspekte gibt, zum Beispiel lehrmäßiger Korrekturbedarf von Schriften und Botschaften oder ein Missbrauch durch Einzelne für einen finanziellen Vorteil oder unmoralische Handlungen. Negative Entscheidungen beziehen sich auf eindeutig schädliche Phänomene oder solche natürlichen Ursprungs: Wenn kritische Aspekte und Risiken überwiegen, ist das Phänomen in die Kategorie "prohibetur et obstruatur" ("es ist zu verbieten und zu verhindern") einzuordnen. Schließlich kann mit einer "declaratio de non supernaturalitate" ("Erklärung, dass es nicht übernatürlich ist") festgestellt werden, dass gar kein Wunder vorliegt. Diese Entscheidung muss sich auf konkrete und nachgewiesene Fakten und Beweise stützen.
Klare Regeln für die Wunderprüfung
Das Verfahren für die Bewertung von angeblichen Wundern wurde dem allgemeinen kanonischen Prozessrecht angepasst und ähnelt dem kirchenrechtlichen Strafprozess und dem Heiligsprechungsprozess. Erfährt ein Diözesanbischof von mutmaßlichen Wundern, muss er eine Voruntersuchung anstellen. Auf der Grundlage dieser vorläufigen Untersuchung hat er zu entscheiden, ob er eine Auswertungsphase einleitet. In dieser Phase wird das Phänomen von einer Kommission untersucht, die mindestens aus einem Theologen, einem Kirchenrechtler und einem für das mutmaßliche Wunder geeigneten Sachverständigen besteht. Die Ergebnisse wertet der Bischof anhand von in den Normen definierten positiven und negativen Kriterien aus. Besonderes Augenmerk soll darauf gelegt werden, ob im Zusammenhang mit dem Wunder geistlicher oder sexueller Missbrauch begünstigt wird.
Gegenüber dem Glaubensdikasterium formuliert der Bischof dann ein Votum, in welche der sechs Kategorien das mutmaßliche Wunder eingruppiert wird. Das Dikasterium kann dieses Votum dann bestätigen oder verwerfen. Über die Entscheidung aus Rom ist das Kirchenvolk in der Regel zu informieren. Unabhängig von der Entscheidung hat der Bischof die Pflicht, "über das Phänomen und die beteiligten Personen weiterhin zu wachen".
Immer wieder kommt es zu angeblichen Wundern. Im Bistum Dresden-Meißen wurde jüngst eine angeblich blutende Marienfigur untersucht. Im April wurde festgestellt, dass es sich nicht um ein Blutwunder, sondern um Milben handelte. Die Marienfigur stammt aus dem Wallfahrtsort Međugorje im heutigen Bosnien-Herzegowina, in dem die Gottesmutter 1981 angeblich sechs Jugendlichen erschienen ist. Bislang erkennt die Kirche die angeblichen Erscheinungen nicht als Wunder an. Immer wieder werden außerdem angebliche eucharistische Wunder geprüft, bei denen sich Wein und Brot tatsächlich auch der Materie nach in Fleisch und Blut verwandelt haben sollen. (fxn)