Freiburger Oberhirte besorgt über Extremismus und Abtreibungsdebatte

Erzbischof Burger: Niemals zurück zum Totalitarismus

Veröffentlicht am 23.05.2024 um 00:01 Uhr – Von Volker Hasenauer (KNA) – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz unterzeichnet. Angesichts dieses Jubiläums blickt der Freiburger Erzbischof Stephan Burger auf die deutsche Gesellschaft. Im Interview gibt er zu, etwa beim Thema Abtreibungen nicht ohne Sorge zu sein.

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Zum Jubiläum 75 Jahre Grundgesetz wendet sich der Freiburger Erzbischof Stephan Burger gegen Abstufungen und Relativierungen der Menschenwürde – etwa bei der Debatte um Abtreibungen. Im Interview sieht er alle in der Pflicht, für Demokratie und Rechtsstaat zu kämpfen. Niemand dürfe schweigen, wenn Parteien oder Gruppierungen den Rechtsstaat in Frage stellen.

Frage: Herr Erzbischof, warum lohnt es sich, am 23. Mai das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor genau 75 Jahren zu feiern? Welche Garantien der Verfassung sind Ihnen besonders wichtig?

Burger: Das ist gleich der erste Artikel: die Unantastbarkeit der menschlichen Würde. Ich komme gerade von einer Caritas-Reise aus der Demokratischen Republik Kongo zurück. In der Kriegsregion Nordkivu konnte ich auf drastische Weise erleben, was es heißt, wenn die Menschenwürde nichts gilt. Zurück in Deutschland, zeigt sich mir umso klarer, welchen Schatz wir mit unserem Grundgesetz haben, das die unantastbare Würde des Menschen hervorhebt und garantiert.

Frage: In Nordkivu herrscht eine grausame Miliz, die bei der Ausbeutung von seltenen Erden und anderen Bodenschätzen über Leichen geht...

Burger: Ja, einige Wenige erzielen durch ihre grausame Profitgier gigantische Gewinne. Das Leben der unzähligen Vertriebenen zählt nichts, wenn sie den Mächtigen bei der Jagd nach Bodenschätzen im Weg stehen. Wir konnten mit geflohenen Kindersoldaten sprechen. Ihre Berichte erinnern mich an Erzählungen aus dem Dreißigjährigen Krieg: Soldatenhorden, die umherziehen und Dörfer plündern und vernichten. Wer sich zur Wehr setzt, wird umgebracht.

Und die Vertriebenen in den Flüchtlingslagern haben keine Perspektive für eine Rückkehr oder einen Neuanfang. Sie halten sich notdürftig mit Lebensmittelzuweisungen und Trinkwasserlieferungen am Leben. Mehr aber auch nicht. Schwangere wüssten nicht, wo sie ihre Kinder zur Welt bringen sollten, würde hier nicht die Caritas mit einigen Zelten der Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe vor Ort sein. Dieser Spannungsbogen menschlichen Lebens, er ist kaum zu ertragen.

Frage: Ortswechsel, zurück nach Deutschland: Zentrale Garantien der Verfassung sind Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit. Wo sehen Sie diese Grundrechte heute am stärksten gefährdet?

Burger: Denken wir nur an unsere Debatten, die unsere Gesellschaft verunsichern. Stichworte mögen genügen wie Remigration, völkisches Denken und Reden, der Aufbau von Feindbildern, die Ausgrenzung von Personen, Personengruppen, die anderen Ethnien und Religionen angehören.

Auch bei den derzeitigen Überlegungen, die gesetzlichen Regeln zum Schwangerschaftsabbruch neu zu fassen, ist für mich ein solcher Ansatzpunkt. Für mich steht außer Frage, dass die Würde des menschlichen Lebens nicht abgestuft gedacht und bewertet werden kann und darf. Sie muss uneingeschränkt gelten: vom Moment der Empfängnis an bis zum Tod. Das liegt für mich tief in unserem jüdisch-christlichen Menschenbild verankert, das die Würde des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit begründet sieht.

Frage: Bei Schwangerschaftsabbruch, Embryonenschutz, bioethischen Grenzziehungen zeichnen sich weitreichende Liberalisierungen ab. Worin sieht die katholische Kirche hier Gefahren?

Burger: Wenn wir hier Türen öffnen, könnte das unser gesamtes Zusammenleben verändern. Wer maßt sich an, Menschsein zu definieren? Wo ist die Grenze, wenn wir einem Embryo die Würde absprechen? Was ist dann mit Menschen, die vielleicht nicht mehr produktiv für die Gesellschaft sind? Oder alt und gebrechlich und nur noch eine Belastung? Diese Vorstellung macht mir große Sorge.

Bild: ©picture alliance/dpa

Der Präsident des Parlamentarischen Rats, Konrad Adenauer, bei der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 in Bonn.

Frage: Auch die Tonlage von gesellschaftlichen Debatten scheint sich zu verändern. Gefährden Hetze und Hass die demokratische Diskussionskultur und den respektvollen Umgang miteinander?

Burger: Ich hoffe nicht, dass dies wirklich soweit kommt. Aber klar ist, dass wir bei einer Verrohung der Sprache nicht wegschauen dürfen. Sprache verändert, prägt. Und nicht selten ergeben sich daraus Handlungsfolgen. Wir erleben gerade, dass auch die Gewaltbereitschaft zunimmt. Dem müssen wir entschieden von Anfang an entgegenwirken.

Frage: Was will die Kirche hierzu beitragen?

Burger: Wir alle sind aufgefordert, Achtung und Respekt auch dem zu erweisen, der nicht unserer Meinung ist. Dafür ist jeder und jede im persönlichen Umfeld verantwortlich. Das gibt uns das Evangelium mit auf den Weg, für das wir einzustehen haben.

Frage: Erleben Sie persönliche Anfeindungen?

Burger: Zum Glück bin ich bislang persönlich auf der Straße nicht frontal angegangen worden. Nebenbemerkungen fallen dann und wann schon einmal. Der Ton wird ruppiger, auch in innerkirchlichen Debatten. Manche Post, die ich bekomme, lässt jeglichen Respekt und jeglichen Anstand vermissen.

Frage: Die Kirchen in Baden-Württemberg haben einen Aufruf veröffentlich, am 9. Juni bei den Kommunal- und Europawahlen "für Demokratie" zu wählen? Was heißt das und warum melden sich die Kirchen jetzt zu Wort?

Burger: Weil wir als Christen dazu beitragen wollen, den freiheitlichen Rechtsstaat zu bewahren. So wie er vom Grundgesetz garantiert ist. Die Erarbeitung der Verfassung vor 75 Jahren war von dem Willen geprägt, alles zu tun, um eine Wiederkehr des Unrechtsstaats des Nationalsozialismus zu verhindern. Das gilt bis heute. Wir dürfen niemals zurück zum Totalitarismus. Niemand darf schweigen, wenn Parteien oder Gruppierungen heute Grundzüge unseres demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaates in Frage stellen wollen.

Frage: Ist die Demokratie weltweit auf dem Rückzug? Können autokratische Staaten vielleicht schnellere und einfachere Antworten in komplexen Krisen und Konflikten geben?

Burger: Es ist schlimm, wenn das auf den ersten Blick so wirken mag. Wer so denkt, übersieht die Unterdrückung der Menschen, die in solchen Systemen leben. Rechtsstaatlichkeit, Demonstrationsfreiheit, Religionsfreiheit, die unantastbare Würde aller Menschen – alles, was das Grundgesetz seit 75 Jahren garantiert, haben Geltung vor allem in demokratischen Gesellschaften und nicht in autoritären Regimen.

Von Volker Hasenauer (KNA)