Sozialethiker Thomas Eggensperger zur Europawahl

Theologe zu Wahl-O-Mat: "Nicht immer die eine katholische Position"

Veröffentlicht am 08.06.2024 um 12:00 Uhr – Von Roland Müller – Lesedauer: 

Berlin ‐ Am Sonntag ist Europawahl. Wer noch nicht weiß, wo das Kreuz auf dem Wahlzettel gesetzt werden soll, bildet sich vielleicht beim Wahl-O-Mat eine Meinung. Was die kirchliche Soziallehre für die Beantwortung empfehlen würde, verrät der Theologe Pater Thomas Eggensperger im katholisch.de-Interview.

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Bereits seit Donnerstag läuft die Europawahl in einigen Ländern, am Sonntag wird auch in Deutschland gewählt. Wer sich noch nicht für eine Partei entschieden hat, kann die Fragen des Wahl-O-Mat beantworten und sich in kurzer Zeit eine Meinung bilden. Doch was würde als Antwort herauskommen, wenn man die insgesamt 38 Fragen vor dem Hintergrund der Soziallehre der Kirche und den Positionen von Papst Franziskus beantwortet? Der Berliner Sozialethiker und Dominikaner Pater Thomas Eggensperger blickt im Interview auf den Wahl-O-Mat und die Europawahl.

Frage: Ist der Wahl-O-Mat aus Ihrer Sicht als Sozialethiker ein gutes Angebot, um zu klären, welcher Partei man bei der Europawahl seine Stimme geben sollte?

Eggensperger: Es ist ein gutes Angebot, weil man bei der Anwendung nicht nur herausfindet, welche der Parteien man wählen kann, sondern sich durch die Fragen auch mit Themen auseinandersetzt, mit denen man sich ansonsten vermutlich gar nicht beschäftigt. Durch den Wahl-O-Mat ist man herausgefordert, sich diesen Themen zu stellen. Dadurch bekommt man Hinweise darauf, was einzelne Parteien denken, und wird zur weiteren Beschäftigung mit ihren Inhalten angeregt. 

Frage: Haben Sie auch Kritik am Wahl-O-Mat?

Eggensperger: Auffallend ist, dass es um (partei-)politischen Positionen und nicht um Personen geht. Unser politisches System ist von Abgeordneten geprägt, fast jede Partei hat einen Spitzenkandidaten. Von Persönlichkeiten ist beim Wahl-O-Mat keine Rede. Ein weiteres Problem steht im Raum: Sachpolitik mit Themen, die im Wahl-O-Mat vorkommen, wird von vielen Menschen als langweilig empfunden. Deshalb haben populistische Thesen so großen Zulauf. Sie klingen in ihrer Kürze und Prägnanz gut und konkret, aber meistens steckt nicht viel dahinter. Wenn man nach der konkreten Umsetzung von einschlägigen Forderungen fragt, müssen Populisten passen. Sachpolitik ist zwar für den interessierten Bürger langweilig, aber sie ist besser als Populismus, der Stimmung macht, aber keine reale Politik ist.

Frage: Bei dieser Europawahl dürfen erstmals Bürger ab 16 Jahren wählen. Ist der Wahl-O-Mat in seiner kompakten Form ein gutes Angebot für diese Zielgruppe?

Eggensperger: Junge Wähler haben erfahrungsgemäß einen begrenzten Horizont von Fragen, mit denen sie sich im politischen Zusammenhang beschäftigen – die Frage nach einer sicheren Rente oder nach überschaubaren Steuerleistungen stellt sich da noch nicht. Der Wahl-O-Mat kann weiterhelfen und diese Beschränkung aufbrechen. Viele der Themen, die gerade die jungen Menschen umtreiben sind richtig und wichtig, wie etwa die Klimathematik. Aber viele Dinge in unserer Welt haben mit komplexeren wirtschaftlichen Zusammenhängen zu tun, die junge Wähler nicht so im Blick haben, aber doch enorm wichtig sind. Ganz nach dem bekannten Wahlslogan aus der Bill-Clinton-Ära: "It's economy, stupid!" (erfunden von James Carville). Auch nach solchen für junge Leute eher randständigen Themen wird im Wahl-O-Mat gefragt, was die Chance bietet, neue Impulse zum Weiterdenken zu erhalten. Gleiches gilt etwa für die Verteidigungspolitik, Steuern und so weiter. Als Wähler sollte man nicht nur den eigenen, in der Regel beschränkten Horizont im Blick haben.

Frage: Der Wahl-O-Mat ist aus ihrer Sicht also eher ein Tool, das nicht nur eine Wahlempfehlung gibt, sondern vor allem zur Beschäftigung mit Politik anregt?

Eggensperger: Genau, vor allem dient er der Ausdifferenzierung. Beim Durchklicken stößt man auf bestimmte Fragen, auf die man selbst vielleicht nicht kommt. Wenn man weiterklickt, erhält man differenzierte Antworten verschiedener Parteien. Es ist interessant zu sehen, welche Partei welche Antworten parat hat. Aber es ist sicher auch wichtig zu merken, welche unterschiedlichen Antworten es eigentlich gibt.

Dominikanerpater Thomas Eggensperger
Bild: ©Privat

Pater Thomas Eggensperger OP ist geschäftsführender Direktor des Instituts Marie-Dominique Chenu in Berlin, einer Einrichtung des Dominikanerordens. Er ist Professor für Sozialethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster und berät die Katholische Arbeitsstelle für Freizeit und Tourismus (KAFT), die von der DBK getragen wird. Außerdem ist er Geistlicher Beirat des "Katholischen Akademischer Ausländer-Dienst" (KAAD), einem Studienförderungswerk der DBK.

Frage: Wenn man nun als Katholik vor dem Hintergrund der Inhalte des Katechismus, der kirchlichen Soziallehre und der Positionen von Papst Franziskus auf die Fragen des Wahl-O-Mat schaut: Gibt es da immer die eine katholische Antwort?

Eggensperger: Ich denke, diese Frage ist zu einseitig gestellt, denn nicht immer gibt es die eine katholische Position. Ich persönlich finde es weniger wichtig, was der Katechismus sagt, sondern als Sozialethiker erscheint es mir interessanter, auf die klassischen Sozialprinzipien zu schauen. Das sind Themen wie Gerechtigkeit, Subsidiarität, Personalität und auch Nachhaltigkeit. Da findet sich schon einiges Konkretes in den Fragestellungen des Wahl-O-Mat wieder. Ob man jetzt eins zu eins sagen kann, ein Katholik muss dann diese oder jene Antwort wählen, das halte ich für fragwürdig. Ein Beispiel: Die Frage, ob die EU Steuern erheben sollte, ist beispielsweise keine Frage, zu der die Kirche von sich aus eine konkrete Antwort parat hat.

Frage: Bei einigen Fragen ist aber doch etwas klarer, welche Position man als Katholik beziehen sollte. Ein Beispiel dafür ist die Frage des Wahl-O-Mat, ob die EU eine eigene Seenotrettung aufbauen sollte.

Eggensperger: Diesen Punkt muss man differenziert sehen. Es ist natürlich keine Frage, dass man sich der Flüchtlinge und Asylbewerber annehmen soll. Auch steht nicht zur Debatte, dass man Menschen in Seenot zur Hilfe kommen muss. Aber das ist nur eine kurzfristige Lösung. Die Seenotrettungs-Forderung steht meiner Ansicht nach nur für ein Verhaften am Symptom, aber eigentlich ist es wichtiger, sich der Ursache anzunehmen, also die Lebensbedingungen der Menschen in Afrika und in anderen Regionen der Erde zu verbessern, damit sie gar nicht erst nicht fliehen müssen. Hier hat auch die Kirche einen Auftrag. Eine organisierte Seenotrettung für Flüchtlinge im Mittelmeer kann zudem den Effekt haben, dass sich mehr Menschen auf die gefährliche Reise nach Europa machen, weil sie darauf vertrauen, schon irgendwie gerettet zu werden. Die Flüchtlinge wissen in der Regel nicht, wie gefährlich der lange Weg eigentlich ist. Da sollte man nicht noch falsche Anreize zur riskanten Flucht setzen. Wir brauchen insgesamt eine realistische Lösung, um gut mit der Flüchtlingssituation umzugehen.

Frage: Wenn wir nun auf die vielen Fragen schauen, die sich – bei einer Europawahl sehr verständlich – um die EU drehen: Lassen sie sich aus Sicht der kirchlichen Lehre überhaupt beantworten?

Eggensperger: Das europäische Projekt hat mit katholischen Politikern begonnen, wie etwa Adenauer, De Gasperi oder Schuman. Die Kirche hat immer ihre Unterstützung der europäischen Einigung betont und viele Päpste haben sich explizit würdigend dazu geäußert. Die Idee seit der Gründung war schließlich – mit einiger Vorsicht ausgedrückt –, dass es eines Tages die "Vereinigten Staaten von Europa" geben würde. Das bedeutet, dass man miteinander am Projekt arbeitet und nach außen zunehmend als Einheit auftritt. Aber es ist sehr hilfreich und sinnvoll, sich bei der europäischen Idee nicht gerade das herauszupicken, was einem gerade gefällt, sondern das große Ganze anzustreben. 

Frage: Einige Fragen des Wahl-O-Mat sind Themen gewidmet, die klassischerweise in den Bereich der Moraltheologie fallen, etwa wenn es um Schwangerschaftsabbrüche geht. Da müssten die Antworten vor dem Hintergrund der Position der Kirche doch sehr klar sein, oder?

Eggensperger: Zumindest die Lehre der Kirche ist bei diesem Thema sehr klar. Aber man sieht auch, dass es unterschiedliche Interpretationen dieser Position in den katholisch geprägten Ländern gibt. Wir in Deutschland haben einen gesellschaftlichen Kompromiss gefunden, wie mit Schwangerschaftsabbrüchen umzugehen ist. Andere Länder sind andere Wege gegangen. So unangenehm es ist, dass die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland und anderen Ländern jetzt wieder aufbricht, aber man muss sich dieser Herausforderung stellen.

Der Wahl-O-Mat

Seit 2002 hilft der Wahl-O-Mat interessierten Bürgern dabei, sich vor Wahlen zu entscheiden, welcher Partei sie ihre Stimme geben möchten. Er wird von der Bundeszentrale für politische Bildung betrieben und stand schon zu über 50 Wahlen zur Verfügung. Die Nutzung des Wahl-O-Mats ist kostenlos.

Frage: Ich habe das mir die Mühe gemacht und alle Fragen des Wahl-O-Mat besonders mit Blick auf die Positionen von Franziskus zur Flüchtlingsthematik, zum Umweltschutz oder zum Lebensschutz beantwortet. Dieses Ergebnis ist dabei herausgekommen: An erster Stelle landete mit 83,3 Prozent die Kleinpartei BIG, dann die Tierschutzpartei und dann die Linke. Auf dem letzten Platz war die AfD (29,8 Prozent). Die CDU fand sich im unteren Mittelfeld bei 46,5 Prozent wieder. Ein realistisches Ergebnis?

Eggensperger: Ich halte das insofern für realistisch, da die Lehre der Kirche und auch Papst Franziskus selbst hohe Ansprüche an die Politik und die Staaten stellen, jedenfalls in der Theorie. Denn die Realität ist komplexer und die Politik steht für die Umsetzung des Möglichen. Hehre Ansprüche, die man stellen mag, hören sich gut an, sind aber als solche schwer zu verwirklichen. Kleinparteien können diese hohen Ansprüche und Forderungen stellen, weil sie nicht in Regierungsverantwortung sind oder kommen werden. Aber die größeren Parteien wissen schon, dass sie Schwierigkeiten bei der politischen Umsetzung haben würden, wenn sie die Latte der Versprechungen und Forderungen all zu hoch hängen.

Frage: Haben Sie auch die Fragen des Wahl-O-Mat beantwortet? 

Eggensperger: Ja, das habe ich. Allerdings nicht mit der "kirchlichen Brille", sondern auf dem Hintergrund meiner persönlichen Ansichten. Ich war aber auch erstaunt, dass die Partei, für die ich bereits per Briefwahl gestimmt habe, bei der Auswertung meiner Vorstellungen erst an vierter Stelle gelistet war. Dass drei andere Parteien zuvor kamen, hat mich schon verwundert, auch wenn sie im gleichen politischen Spektrum angesiedelt sind wie die Partei, bei der ich mein Kreuzchen gemacht habe.

Frage: Gab es eine Frage des Wahl-O-Mat, die Sie überrascht hat?

Eggensperger: Auch wenn diese Thematik nicht ganz neu ist, hat mich doch die Frage überrascht, ob die EU Steuern erheben darf. Denn letzten Endes geht es bei der Befürwortung oder Ablehnung darum, wie sehr die Bürger Europa vertrauen und für eine Übertragung von Rechten der Nationalstaaten an die EU sind. Das wir dann beim Geld besonders konkret. Es geht bei dieser Frage also nicht darum, ob die Bürger mehr zahlen müssen, sondern wofür die Steuern stehen, die letztlich eine Europäisierung der Politik bedeuten.

Frage: Sie haben Erfahrungen mit der europäischen Politik, weil sie von 2000 bis 2005 ein Institut Ihres Ordens in Brüssel geleitet haben. In dieser Funktion waren Sie in gewisser Weise nicht nur Berater, sondern auch Beobachter. Wie haben Sie die EU damals wahrgenommen und wie erleben Sie sie heute?

Eggensperger: Anfang der 2000er Jahre gab es eine deutlich höhere Europa-Begeisterung. Formeln, wie die "Vereinigten Staaten von Europa" waren durchaus präsent im Diskurs. Damals gab es noch eine größere Aufbruchsstimmung in Sachen Europa. Das gilt auch für die kirchlichen Einrichtungen bei der EU, etwa die COMECE oder Caritas Europa. Eine große Freude an Europa war spürbar, aus heutiger Sicht aber vielleicht noch etwas naiv. Ein Beispiel war der Versuch der Bürgerbeteiligung an der Vorbereitung des europäischen Verfassungsvertrags, der dann fulminant gescheitert ist. Die Beteiligung der EU-Bürger einzufordern, hört sich sehr gut an, aber die Realität ist dann doch so, dass viele an konkreter Beteiligung und praktischem Engagement gar nicht interessiert waren. Heute erleben wir Jahre der Ernüchterung im Blick auf Europa und es überrascht mich, wie schnell die EU für viele zu einem diffusen und zuweilen undifferenzierten Feindbild geworden ist. Früher war die politische Frage eher die, ob Entscheidungen für Europa gut sind. Heute ist die Bewertung: Ist es für mich gut? Das ist ein großer Unterschied.

Von Roland Müller