Theologe: Queere Menschen sollten in der Kirche einen Schutzraum haben
Am 11. Juni 1994 wurde der sogenannte "Schwulen-Paragraf" 175, der bis 1969 sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern unter Strafe gestellt hatte, endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Die Kirche hatte noch kurz zuvor für seinen Verbleib votiert – und die katholischen Verbände quittierten die Entscheidung weitestgehend mit Schweigen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sieht bei sich und den Laienverbänden eine Mitschuld und Verantwortung im Umgang mit der Kriminalisierung von Homosexualität und will die eigene Rolle bei der Diskriminierung queerer Christen in der Kirche drei Jahrzehnte nach der historischen Entscheidung untersuchen. Einerseits will es sich dafür einsetzen, dass Menschen, die wegen ihrer queeren Identität von der Kirche ausgegrenzt, ihre Anstellung verloren oder aus Ehrenämtern entfernt wurden, rehabilitiert werden – auch posthum. Andererseits soll es eine historische Studie zur Beteiligung der katholischen Kirche an der Aufrechterhaltung des Strafrechtsparagrafen geben. Das Forum katholischer Männer (FkM), ein Mitgliedsverband des ZdK, hat bei der Vollversammlung des Laien-Dachverbands im Mai die entsprechende Beschlussvorlage eingebracht. FkM-Geschäftsführer und Theologe Andreas Heek spricht im Interview über das Schweigen der Verbände zur damaligen Zeit und über die Folgen, die der Beschluss für die Situation queerer Menschen in der Kirche haben soll.
Frage: Herr Heek, das ZdK hat jüngst in einem Beschluss sein Versagen im Umgang mit der Kriminalisierung von Homosexualität bekannt. Worin besteht oder bestand die Mitschuld des deutschen Laienkatholizismus?
Heek: Dass er geschwiegen hat, als der Paragraf 175 endlich aus dem Strafrecht gestrichen wurde. Mir ist kein namhafter Verband bekannt, der diese Streichung befürwortet hätte. Und davor gab es auch wenig Unterstützung queerer Verbände. Im Gegenteil. Öffentlich wurde gegen Schwule und Lesben Stimmung gemacht. Dazu wurden Initiativen wie "Homosexuelle und Kirche" bis in die 1990er Jahre von Katholikentagen ausgeschlossen.
Frage: Es ist durchaus überraschend, dass es bislang kein Wort dazu vonseiten des ZdK gab, obwohl die Streichung des Paragrafen schon 30 Jahre zurückliegt. Die Diskussion um queere Menschen in der Kirche läuft schon einige Jahre und war auch beim Synodalen Weg ein zentrales Thema.
Heek: Das stimmt natürlich. Wir haben festgestellt, dass es sogar von 1994 bis jetzt weiterhin ein beredtes Schweigen gab. Dass es den Paragrafen überhaupt so lange gab, ist ein Skandal. Und seine Abschaffung wurde von der katholischen Kirche nahezu still übergangen. Das wollen und müssen wir thematisieren.
Frage: Warum wurde die Abschaffung in den Laienverbänden so übergangen?
Heek: Das kann ich letztendlich nicht beantworten. Ich weiß nur, dass es bisher keinerlei Hinweise darauf gibt, dass eine Diskussion stattgefunden hat. Deshalb wollen wir es nicht bei der Stellungnahme belassen, sondern das auch mit einer historischen Studie aufklären. Die Zusammenhänge zwischen moraltheologischer Bewertung von Homosexualität, Kriminalisierung und gesellschaftlichem Wandel, der ja lange vor 1994 stattgefunden hat, müssen untersucht werden. Wenn wir Laien das thematisieren wollen, müssen wir uns an die eigene Nase fassen und unser Versagen aufarbeiten.
Frage: Wie sah das denn in Ihrem Verband aus?
Heek: Auch mein eigener Verband, der früher Gemeinschaft der katholischen Männer Deutschlands hieß, hat sich eigentlich nie zu dieser Thematik geäußert. Von meinen eigenen Recherchen ausgehend muss ich gestehen, dass es auch dort eine versteckte oder sogar offene Homophobie gab. Das hat sich zum Glück gewandelt.
Frage: Heute ist es bei aller Verschiedenheit der Positionen weitestgehend Konsens in der Kirche in Deutschland, dass eine Kriminalisierung Homosexueller gerade aus christlicher Sicht abzulehnen ist. Doch der Weg dazu war sehr lang: Kirchliche Vertreter plädierten noch kurz vor der Abschaffung des Paragrafen 175 für dessen Verbleib. Was spielte bei dieser Entwicklung bis in die Gegenwart eine Rolle?
Heek: Die Hauptrolle hat aus meiner Sicht die Hartnäckigkeit der Betroffenen selbst gespielt. Hätten sie nicht selbst für sich eine größere Öffentlichkeit hervorgerufen, hätten sie nicht ihr So-Sein thematisiert und in Anspruch genommen, dass ihnen mit Würde begegnet wird, dann wären wir heute nicht so weit. Sie haben dafür gesorgt, dass das Thema innerhalb der Kirche zu Wort kam. Ich glaube, das beeinflusst auch heute noch die moraltheologische Bewertung von Homosexualität, in der die Diskussion weiter ist als das Lehramt. Dieses bezeichnet homosexuelle Handlungen weiterhin ausnahmslos als irregulär. Da muss noch weiter daran gearbeitet werden.
Frage: Wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen: Wann gab es denn die ersten Ansätze einer Zusammenarbeit zwischen kirchlichen Verbänden und katholischen Homosexuellenverbänden?
Heek: Zwischen den Verbänden hat sich eine Zusammenarbeit noch immer nicht so richtig eingespielt. Aber historisch gesehen war ein wichtiger Punkt, an dem die Kirche aktiv wurde, die Aids-Epidemie in den 1980er Jahren. Die Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger auf den Aids-Stationen waren damals die ersten Homosexuellen-Seelsorger. Sie haben sich an die Betten der sterbenden Männer gesetzt und ihnen beigestanden, sofern diese das wollten. Das sind für mich die ersten, die wirklich gezeigt haben, dass sie an der Seite von Homosexuellen stehen. Das war ein Wendepunkt. Der zweite Punkt ist dann eben die Selbstorganisation von Homosexuellen. Sie haben immer wieder versucht, mit der Kirche in Kontakt zu treten. Sie haben nicht nachgelassen in dem Wunsch, eigene Gottesdienste zu feiern, sich selbst zu vergewissern – und hatten in einigen Diözesen teilweise auch Erfolg. Dadurch sind dann auch die Laienverbände nachdenklich geworden.
Frage: Was bedeutet dieser Beschluss jetzt für die aktuelle Debatte um queere Menschen in der Kirche?
Heek: Zum einen sind wir den Betroffenen, die es innerhalb der Kirche gibt – Leute, die ihr Ehren- oder ihr Hauptamt im Zuge der Verurteilung als Straftäter verloren haben –, eine Entschuldigung schuldig. Zum anderen sollten wir uns ganz klar dazu bekennen, dass queere Menschen in der Kirche einen Schutzraum haben sollten, in dem sie sich bewegen können. Denn gesellschaftlich weht ihnen nicht unbedingt ein freundlicher Wind entgegen, gerade vom rechten Rand des Spektrums. Es wäre also eine große Aufgabe für die Kirche, einen Schutzraum zu bieten.
Frage: Wenn wir uns die globale Situation ansehen: In der Debatte um schärfere Gesetze für Homosexuelle in Afrika warnen Papst Franziskus und der Vatikan ausdrücklich vor einer Kriminalisierung homosexueller Handlungen – durchaus auch gegen die Position mancher Bischofskonferenzen. Sehen Sie da eine Entwicklung – oder erinnert man sich nur an das, was eigentlich schon immer hätte gelten müssen?
Heek: Für viele afrikanische Bischöfe ist das, wie etwa in der katholischen Kirche in Deutschland in Bezug auf Queer-Freundlichkeit vorgeht, eine Zumutung – aber eine notwendige, wie ich finde. Papst Franziskus hat absolut recht, wenn er fordert, dass Menschen mit ihrer Identität in keinem Land der Welt von der katholischen Kirche diskriminiert werden sollten. Aber da gibt es noch viele Baustellen. Der Papst könnte vielleicht noch stärker auf die afrikanischen Bischöfe zugehen und ihnen deutlich machen, was er immer wieder betont: dass alle Menschen, auch queere, vor Gott gleich und von Gott geschaffen sind.
Frage: Aber hat sich da aus Ihrer Sicht der Vatikan schon weiter bewegt, indem er ganz explizit sagt, dass man sich als Kirche davor hüten sollte, die Kriminalisierung von homosexuellen Handlungen zu fordern?
Heek: Ich glaube, dass der Vatikan sich in dieser Hinsicht bewegt. Auch das Papier zu den Segnungen weist aus meiner Sicht den Weg in diese Richtung, dass die Akzeptanz von queeren Paaren wächst. Wir wissen natürlich auch, wie groß der Widerstand und der Einspruch aus der Weltkirche war, aber es gibt auch sehr viel Zustimmung. Das macht schon Mut, dass der Vatikan sehr behutsam einen Weg dahin beschreitet, gleichgeschlechtliche Beziehungen unter denselben Voraussetzungen wie auch andere dauerhafte Beziehungen zu sehen.
„Was queere Menschen für die Kirche und für den Glauben tun, indem sie ihr eigenes Geschaffen-Sein als eine Tatsache beschreiben, indem sie sich zum Teil auch sehr persönlich zu ihrer eigenen Lebensgeschichte äußern, ist eine enorme Bereicherung.“
Frage: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass es in der Kirche irgendwann auch eine moralische Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe geben wird?
Heek: Das wäre eine logische Konsequenz. Wenn man akzeptiert, dass Menschen zusammen sein und ihre Liebe leben wollen, muss das auch mit einer entsprechenden ethischen Bewertung einhergehen. Eines Tages wird das bestimmt akzeptiert werden. Ich bin da ich optimistisch, wenn wir diesen Weg, der auch mit dem Synodalen weg begonnen wurde, weiter beschreiten.
Frage: Welche Diskussionen wünschen Sie sich nun im Anschluss an diesen Beschluss in den Verbänden?
Heek: Ich hoffe, dass die Diskussion und die Aufarbeitungsbestrebungen in den Verbänden noch einmal intensiviert werden. Wenn man in die Archive schaut: Gibt es da Stellungnahmen zum Thema Homosexualität? Und man dann zu ihnen steht, aber sagt, dass das damals zeitbedingt so war, heute aber anders ist. Die eigene Schuld klar zu benennen, aber gleichzeitig die neue Haltung deutlich zu machen.
Frage: Ist aus Ihrer Sicht Kirche ohne das Engagement homosexueller oder queerer Menschen überhaupt noch denkbar?
Heek: Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Was queere Menschen für die Kirche und für den Glauben tun, indem sie ihr eigenes Geschaffen-Sein als eine Tatsache beschreiben, indem sie sich zum Teil auch sehr persönlich zu ihrer eigenen Lebensgeschichte äußern, ist eine enorme Bereicherung. Wenn wir diesen Reichtum unseres Katholisch-Seins, zu dem auch queere Menschen beitragen, noch stärker entdecken und den Dialog mit queeren Menschen wirklich bis in die einzelne Gemeinde hineinbringen, wird hoffentlich irgendwann klar, dass Queer-Sein nicht etwas "Besonderes" ist, sondern zur Normalität gehört. Ich schätze, in vielen größeren Familienzusammenhängen gibt es mindestens eine Person, die sich als queer geoutet hat. Warum sollen wir das in der Kirche weiter tabuisieren? Wir brauchen da weiterhin eine grundlegende Bereitschaft, dieses Tabu zu brechen.