Ein Yoga-Seminar im Engelhotel
"Wo bin ich hier eigentlich hineingeraten?" Dieser Gedanke schießt mir gleich mehrfach durch den Kopf, während mir auf den letzten 20 Kilometern bis zum Ziel, fernab von jeder Zivilisation, fast kein Auto mehr begegnet. Ich bin auf dem Weg in die Rhön. Und anscheinend will wirklich niemand außer mir dorthin. Endlich, eine Tankstelle. Falls ich fliehen will, was mir immer wahrscheinlicher vorkommt, tanke ich lieber nochmal voll, denke ich. Oder auch nicht, die Tankstelle hat nur von 15-18 Uhr geöffnet – und sonntags gar nicht.
Vor einem halben Jahr bei der Buchung habe ich mir meine Ankunft hier noch irgendwie anders vorgestellt. Sechs Tage im Wellnesshotel, ein bisschen Sport und dabei etwas über Stressmanagement lernen klang ziemlich attraktiv. Spätestens beim Betreten des Hotels weiß ich dann sicher, dass das hier kein normaler Aufenthalt wird. Während ich warte, bis ich mit dem Einchecken an der Reihe bin, springt mir direkt der Verkaufstresen neben der Rezeption ins Auge. Hinter den Glastüren findet man allerlei Klimbim. Darunter sind selbstgemachte Marmelade, vom Hotel gebrannter Apfelschnaps und – moment mal – man kann dort Engelsduft erwerben. Die kleinen, blauen Sprühfläschchen mit verschiedenen Duftrichtungen gibt es zum Spottpreis von 15 Euro. Das ist nur ein kleiner Hinweis auf das, was mich erwarten wird. Ich nutze den ersten Abend für den Wellnessbereich und denke erst, ich sehe nicht richtig – aber sogar in der Sauna finde ich sie wieder. Von der Wand aus blicken sie anmutig auf die Gäste herab: Engel in schemenhafter Gestalt auf einem Plakat. Sie umgibt jeweils eine gleißende Aura. Ein kleiner Rundgang durch das Hotel zeigt: Engelsstatuen sind allgemein sehr präsent. Eine besonders große steht neben dem Bücherregal auf dem Weg zu den Seminarräumen. Daneben ein Buch "Beten lernen mit Engeln" sowie aus irgendeinem Grund ein Massageroller... Ich fühle mich verfolgt und frage an der Rezeption nach, was genau dahintersteckt. "Jo mai, in Bayern sin mir halt katholisch", ist alles, was ich als Antwort bekomme. Bitte nicht falsch verstehen, ich kann Engeln durchaus etwas abgewinnen, wenn sie im kirchlichen Kontext vorkommen. Aber der inflationäre Gebrauch im Wellnesshotel mit dem Charme der 90er Jahre irritiert mich doch. Ich bin schon auf dem Weg zum Zimmer, da ruft mir die Dame an der Rezeption noch hinterher: "Ihre Gruppe trifft sich morgen zum Yoga im Raum Maria, zur Theoriestunde geht es dann in den Raum Josef, seien Sie pünktlich." Na, Halleluja.
Der Weg zur Entspannung
Am nächsten Morgen im Yogaraum – Verzeihung, im Raum der heiligen Muttergottes – lernen wir neben den Übungen "Krokodil, Banane und Sphinx" vor allem eines: Atmen. Man denkt eigentlich, dass man atmen kann, sonst hätte man kaum so lange überlebt. Aber je mehr ich mich darauf konzentriere, langsam zu atmen, desto weniger scheine ich Luft zu bekommen. Beim Mittagessen lernt sich die Gruppe kennen und ich werde über meinen Beruf ausgequetscht. Viele der anderen Teilnehmer kommen aus der Diaspora; dadurch ist man selbst hier, wo Esoterik auf Engel trifft, als Kirchenmitarbeiter doch ein Exot. Jemand gibt ein ausgedrucktes Tagesprogramm herum. Darauf findet man neben dem Sternzeichen und den Elementen des Tages auch Affirmationssprüche wie "Ich akzeptiere mich wie ich bin" und "Mein Herz ist ein Tor zur Liebe". Mein ganz persönlicher Affirmationsspruch lautet in diesem Moment: "Egal, wer mich als nächstes anspricht, ich trete ihm nicht gegen das Schienbein." Yoga hat also schon mal funktioniert: Ich bin total entspannt!
In der erstem Aryuveda-Theoriestunde lerne ich auch, warum ich mich so schlecht entspannen kann: Es ist mein Dosha, also die Energie in meinem Körper. Ich bin nämlich ein Vata-Pitta-Typ. Meine Elemente sind ölig und luftig mit einem starken Agni (Verdauungsfeuer). Wenigstens habe ich jetzt bestätigt bekommen, dass ich mehr Süßigkeiten essen soll. Die gleichen die Schärfe in meiner Persönlichkeit nämlich aus – oder irgendwie so, alle Angaben ohne Gewähr…
Mehr Toleranz
In den nächsten Tagen verbringen wir sehr viel Zeit mit Yoga, sehr viel Zeit mit der Gruppe und sehr viel Zeit im Nachdenken über uns selbst. Und tatsächlich verändert sich etwas in mir. An Tag drei schaffe ich es endlich, ruhiger zu atmen. Ich schaue seltener aufs Arbeitshandy, habe weniger Angst, dort etwas zu verpassen. Eine Pause mitten am Tag verschlafe ich komplett. Ich habe das Gefühl, mein Körper und mein Geist fahren seit Jahren das erste Mal richtig herunter. Am Anfang war ich noch sehr irritiert darüber, dass hier der christliche Glaube mit allen möglichen anderen Spielarten der Spiritualität gemischt wird. Wirklich christliche Angebote gab es dabei nicht, anscheinend ist lediglich die Hotelchefin gut katholisch. Ich habe diese Mischung fast als anstößig empfunden. Aber in den Gesprächen mit den anderen spüre ich eine große Gelassenheit, denn eigentlich ist hier egal, wer welche Spiritualität lebt, alle sind im Vertrauen auf "etwas" völlig entspannt. Entspanntheit durch Vertrauen auf Gott sollten Katholiken eigentlich auch haben und dadurch – könnte man meinen – sogar besonders tolerant sein, aber häufig ist das Gegenteil der Fall. Ich kann weiterhin nicht behaupten, dass ich Dingen wie "Grander-Wasser" (Wasser, das irgendwie durch positive Erinnerungen aufgeladen wird), welches hier im Hotel fließt und abnorm teuer ist, etwas abgewinnen kann. Aber vielleicht sollten wir alle einfach ein bisschen toleranter sein und denken: "Wenn’s dir hilft…". Denn anscheinend tut es das bei vielen Menschen.
Ich bin nun schon einige Zeit zurück im Alltag. Was ich mitnehme, ist der Kontakt zu wundervollen Menschen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Ich versuche, im Alltag öfter bewusst durchzuatmen (das kann ich ja jetzt ganz offiziell) und nicht jeden Fehler direkt als Weltuntergang zu sehen. Im Büro wird man mich bestimmt demnächst mal das Krokodil oder den Fisch machen sehen. Und dann sind es meine Kollegen, die denken: "Wo bin ich hier eigentlich hineingeraten?"