Bischof Voderholzer über Fritz Gerlich: Ein Prophet und Märtyrer
In der Nacht auf den 1. Juli vor 90 Jahren wurde der Münchner Publizist Fritz Gerlich (1883-1934) ermordet. Im Interview erinnert der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer an einen lange unbeachteten Widerstandskämpfer. Und sagt, was sich von Gerlich für den Umgang mit Rechtsextremisten heute lernen lässt.
Frage: Herr Bischof, erinnern Sie sich noch daran, wie Sie auf Fritz Gerlich aufmerksam wurden?
Voderholzer: Das war 1993 zum 60. Jahrestag seiner Verhaftung. Es gab in der "Süddeutschen Zeitung" eine Artikelserie, die später zu einem Buch wurde, und einen Fernsehfilm. Der hat mich ziemlich aufgerüttelt. Mir wurde deutlich, welche dramatische Lebensgeschichte dahinter steht und dass wir es hier mit einem Propheten und Märtyrer zu tun haben. Dass ein Mensch mit vielen Ecken und Kanten zum Schluss einen solch "geraden Weg" gehen kann, beeindruckte mich tief.
Frage: Der Publizist wurde lange nicht dem Widerstand gegen Hitler zugerechnet. Verstehen Sie weshalb?
Voderholzer: Das hat mehrere Gründe. So sprechen manche erst dann von Widerstand, wenn ein etabliertes System zu bekämpfen ist. Dazu kommt, dass die erste Biografie über Fritz Gerlich von einem seiner Redakteure schon vor der Währungsreform erschien. Gleich nach 1945 wurde auch in Regensburg eine Straße nach ihm benannt. Aber eine Breitenwirkung ging davon nicht aus. Die Leute hatten damals andere Sorgen.
Frage: Erich Kästner meinte einmal, der Nationalsozialismus hätte spätestens 1928 bekämpft werden müssen: "Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf." Gerlich war demnach auch schon zu spät dran.
Voderholzer: Jedenfalls kann man nie früh genug auf Schieflagen hinweisen. Im Rückblick ist es immer schwierig, sich mit der Frage zu beschäftigen, was hätte passieren können und wie hätte das den Lauf der Geschichte verändert. Gerlich hat mit seinem publizistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus 1930 begonnen. Aber er hat nicht zum Erfolg geführt. Leider.
Frage: Wie würde Gerlich heute auf das Erstarken rechtsextremer Umtriebe reagieren? Hat er gar den deutschen Bischöfen Pate gestanden bei ihrer schroffen Absage an den "völkischen Nationalismus" und die AfD?
Voderholzer: Ich glaube, Gerlich würde auch heute sehr wohl die Ideologien dahinter benennen. Eine Politik der Zehn Gebote, wie er es genannt hat, würde er stark machen, basierend auf dem Naturrecht. Er hätte die wirklich demokratischen Kräfte unterstützt und zum politischen Engagement ermutigt.
Frage: Gerlich war selbst Patriot und in jungen Jahren durchaus empfänglich für nationalistische Parolen. Warum ist er ihnen nicht vollends auf den Leim gegangen?
Voderholzer: Es stimmt, dass er nationalkonservative Ansichten vertreten hat und auch Adolf Hitler anfänglich durchaus mit einer gewissen Sympathie begegnet ist. Ein entscheidendes Erlebnis war für ihn der 9. November 1923 mit dem Putschversuch in München. Da ist ihm die Grenze einer extrem nationalistischen Position deutlich geworden. Noch ein Wort zum Patriotismus. Den muss man von Nationalismus deutlich unterscheiden, das sind zwei Paar Stiefel. Jeder Mensch hat und braucht eine Heimat. Zu der darf er auch stehen, ohne sich damit gegen andere zu richten.
Frage: Hitler jedenfalls hat Gerlich als Gegner sehr ernst genommen.
Voderholzer: Ja, das sage ich immer wieder, auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden. Hitler war in gewisser Weise ein Mediengenie. Er beherrschte die ganze Klaviatur der Propaganda, das hat ja auch seinen Erfolg mit ausgemacht. In Gerlich fand er einen nicht minder genialen Widerpart. Den galt es so schnell wie möglich außer Gefecht zu setzen. Was er dann auch getan hat, und zwar noch in der ersten Stunde, nachdem er in Bayern an die Macht gekommen war.
Frage: Gerlich war in der Wahl seiner publizistischen Kampfmittel nicht zimperlich. Spott und persönliche Verunglimpfung gehörten zu seinem Repertoire. Was lässt sich heute von ihm lernen, wenn es gilt, den "Anfängen zu wehren"?
Voderholzer: Gerlich hat gelesen und ernst genommen, was die Nationalsozialisten geschrieben haben. Er hat das in einen größeren historischen Kontext eingeordnet. Seine persönlichen Attacken haben einigen im bürgerlichen Lager missfallen und dort Vorbehalte gegen Gerlich erzeugt. Ob man das wiederholen sollte, erscheint mir fraglich. Etwas anderes finde ich an ihm interessanter.
Frage: Was denn?
Voderholzer: Wenn Gerlich den Nationalsozialismus als geistige Pest brandmarkt, ist das nicht nur ein starkes Wort. Dahinter steckt auch Analyse. Nach einem Krieg brach in früheren Zeiten oft die Pest aus. Darauf spielt er an. Was heißt das übersetzt? Dagegen zu sein allein reicht nicht. Man muss auch erforschen, welche Ursachen bestimmte politische Erscheinungen haben, um sie nachhaltig zu bekämpfen. Die politische Mitte war damals einfach zu schwach, und mancher Zwist in diesem Lager war unnötig. Im Nachhinein hat Gerlich in vielem Recht behalten. Die Schärfe in seinen Aussagen mag sich auch dadurch erklären, dass er sich nicht mehr anders zu helfen gewusst hat.
Frage: Wo sehen Sie heute Parallelen zum Beginn der 1930er Jahre?
Voderholzer: Völkisch-nationalistische Tendenzen in der aktuellen Politik beunruhigen mich sehr. Ich stehe auch zu jedem Wort, das wir deutschen Bischöfe dazu bei der jüngsten Frühjahrsvollversammlung in Augsburg geschrieben haben. Es wäre eine Überlegung wert gewesen, auch linksextreme Positionen explizit beim Namen zu nennen. Durchsetzen konnte ich mich mit meinem klaren Votum, das Thema Schutz des menschlichen Lebens von seinem Beginn bis zu seinem natürlichen Ende als einen Aspekt der Menschenwürde in den Text aufzunehmen. Ich will auf keinen Fall, dass wir dieses Thema nicht mehr besetzen und irgendwelchen Rändern überlassen. Etwas anderes habe ich nicht erreicht.
Frage: Nämlich?
Voderholzer: Ich hätte mir gewünscht, dass wir Bischöfe Katholikinnen und Katholiken – ich spreche gerne von den "Weltchristen" – aufrufen, sich noch stärker in den demokratischen Parteien der Mitte zu engagieren, um den Geist des Evangeliums in Gestalt der katholischen Soziallehre in die Politik zu tragen. So sieht das schon etwas seltsam aus: Wir Bischöfe beschäftigen uns mit Parteipolitik, und die Reformgruppen versuchen sich an der Fortentwicklung der Sakramententheologie. Das scheint mir nicht die richtige Arbeitsteilung zu sein.