Der Fußballgott hat Geburtstag: 70 Jahre und ein bisschen leiser
Der vielbeschworene Fußballgott wird 70. Das Flutlicht der Fußballwelt erblickte er am 4. Juli 1954 beim legendären "Wunder von Bern", als Deutschlands Torwart Toni Turek mit unglaublichen Paraden den 3:2-Sieg im WM-Endspiel gegen Ungarn festhielt: "Turek, du bist ein Teufelskerl – Turek, du bist ein Fußballgott", entfuhr es da Reporter-Legende Herbert Zimmermann.
Heute kaum vorstellbar: Zimmermann bekam damals die Gelbe Karte für seine von manchen als gotteslästerlich empfundenen Worte. Er musste sich bei der Kirche entschuldigen, beim Intendanten vorsprechen und sich sogar von Bundespräsident Theodor Heuss rüffeln lassen.
Lange Zeit hieß es auch, der Fußballgott sei aus der Aufzeichnung der Reportage entfernt worden und Zimmermann habe die Passage für das Archiv neu sprechen und den Fußballgott durch "Toni, du bist Gold wert" ersetzen müssen. Ein Hinweis aus dem Archiv des SWR widerlegt diese Legende allerdings: Anders als oft behauptet existiert die Originalaufnahme bis heute und zeigt, dass die Passage mit dem Fußballgott aus der ersten Halbzeit ebenso zu hören ist wie die andere Passage mit "du bist Gold wert" aus der zweiten Hälfte.
Fußballgott nicht mehr wegzudenken
Seitdem jedenfalls ist der Fußballgott nicht mehr wegzudenken vom Himmel über dem heiligen Rasen. Wobei er bei der aktuell laufenden Europameisterschaft – bisher jedenfalls – eher auf der Ersatzbank versauert. Seinen ersten Kurzeinsatz hatte er jetzt im Achtelfinale beim mehr als glücklichen Ausgleich Englands gegen die Slowakei in der Nachspielzeit, als ZDF-Experte Moritz Volz Torschütze Jude Bellingham mit fußballgöttlichen Attributen versah.
Das war schon mal ganz anders – etwa als er zur EM 2008 sogar in populären Fußballsongs beschworen wurde: "Bitte lieber Fußballgott, lass uns heute nicht im Stich", flehte etwa Oliver Pocher, und die Gruppe Revolverheld war sicher: "Der Fußballgott wird uns zur Seite stehen."
In früheren Umfragen der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) gab es auch immer wieder das ein oder andere Bekenntnis: Torjäger und Katholik Miroslav Klose etwa musste eher schmunzeln, wenn "Miro Klose Fußballgott" aus der Kurve erklang: "Aber klar ist das ein schönes Gefühl, wenn die Fans das rufen."
Kult-Trainer Jürgen Klopp fühlte sich "ganz unwohl mit dem Begriff". Schließlich gebe es so viele wichtigere Dinge. Natürlich kümmere sich Gott um alles, also auch um Fußball, aber dafür habe man "da oben sicher keine spezielle Abteilung aufgemacht". Auch der langjährige DFB-Manager und Ex-Domsingknabe Oliver Bierhoff hielt den Ball bewusst flach: "Beten hilft immer. Aber an einen Fußballgott glaube ich nicht." Der letzte der 54er-Helden von Bern, Horst Eckel, sagte kurz vor seinem Tod 2021 der KNA: "Ich glaube, dass Gott überall zu finden ist, also warum nicht auch im Fußball."
Theologisch steht der Fußballgott natürlich klar im Abseits. Es gibt nur einen Gott – aber der ist weder rund noch aus Leder. Der aktuelle katholische Sportbischof Stefan Oster beantwortet die KNA-Frage, ob er an einen Fußballgott glaubt, kurz und knapp mit: "Nee, ich bin katholisch!" Und der Kölner Kardinal und so leidenschaftliche wie leidgeprüfte 1.FC-Köln-Fan Rainer Maria Woelki sagt auf dieselbe Frage: "Da bin ich Atheist." Gott liebe jeden Menschen – auch jeden Fußballspieler und jeden Fan: "Er liebt aber keine Mannschaften und dreht nicht daran, dass der Lattenschuss doch noch mit Drive hinter die Torlinie fällt."
Der Sportbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Thorsten Latzel, sagte der KNA beim EM-Eröffnungsgottesdienst, es gebe keinen Fußballgott, aber einen Gott, der alle Menschen und auch schöne Geschichten liebe: "Und weil er beides liebt, liebt er auch den Fußball, denn der schreibt die schönsten Geschichten." Der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Bernd Neuendorf, ergänzte, er wolle Gott nicht für den Fußball vereinnahmen, aber er schmunzele gerne, wenn einzelne Spieler in den Stadien als "Fußballgott" von den Fans gefeiert würden, etwa beim Verlesen der Mannschaftsaufstellung.
Dieser Form der Verehrung kann auch ZDF-Fußballreporter Tibor Meingast eine Menge abgewinnen, etwa wenn bei Union Berlin jeder Spieler des eigenen Teams vor dem Spiel als "Fußballgott" gefeiert wird. "Das finde ich großartig", ergänzt Meingast: "Beruflich benutze ich den Ausdruck aber nie, privat zum Scherz schon einmal. Ironie funktioniert im Fernsehen nicht, daher lasse ich es." Es gebe beim ZDF aber kein Fußballgott-Verbot.
Nicht auf dem Index
Auch bei der ARD steht er nicht auf dem Index. In "Zeiglers wunderbarer Welt des Fußballs" hatte der Fußballgott lange Zeit sogar eine eigene Rubrik. Wichtig sei nur, keine Gefühle zu verletzen – auch keine religiösen. Fußballreporter Holger Dahl kommt der Begriff eher selten über die Lippen: "Das hat damit zu tun, dass ich nicht unbedingt sehe, warum Gott in die – wie sagt man so schön – schönste Nebensache der Welt eingreifen sollte. Und wenn, dann würde er ja den Einen dem Anderen vorziehen. Das entspricht dann zumindest nicht meinen Vorstellungen der Dinge, die ich Gott zuschreibe."
70 Jahre und ein bisschen leiser. Zum runden Geburtstag hat der Fußballgott derzeit also eher seinen Stammplatz auf der Ersatzbank gefunden. Aber wer weiß schon, ob er nicht doch mal wieder als Joker eingewechselt wird und urplötzlich sein großes Comeback erlebt? Vielleicht sogar schon bei dieser EM...