Christentum und Antisemitismus – zu lange eine unheilige Allianz
An der Verurteilung des Antisemitismus lassen die christlichen Kirchen heute keinerlei Zweifel aufkommen. Papst Franziskus nennt die „Bedrohung durch den Antisemitismus, die in Europa und anderswo immer noch schwelt, […] eine Lunte, die man auslöschen muss". Was der Papst nicht sagt: Diese Lunte wurde vom Christentum nicht nur gelegt, sondern vielfach mit verheerenden Folgen gezündet.
Antijüdischer Gründungsmythos des Christentums
Wie begann das Christentum? Dazu gibt es eine Erzählung, die Theologie, Liturgie, christliche Ikonographie und religiöse Bildung jahrhundertelang bestimmte und die bis heute noch weit verbreitet ist. Demnach verkündete Jesus von Nazaret dem jüdischen Volk einen barmherzigen Gott und brach damit mit dem alttestamentlichen Bild eines zürnenden, ja rachsüchtigen Gottes. Der jüdischen Vergeltungsethik habe Jesus in der Bergpredigt ein neues Ethos entgegengesetzt: Liebt eure Nächsten, ja sogar eure Feinde! Doch das jüdische Volk habe Jesu Botschaft verschmäht und ihn gekreuzigt. Pfingsten, an dem Jesu Jünger seine Auferstehung verkündeten, sei der Geburtstag der Kirche. Die Apostel, so die Erzählung weiter, seien die ersten Christen, noch Jesus habe Petrus zum kirchlichen Oberhaupt eingesetzt und auch Paulus habe sich vor Damaskus vom Judentum zum Christentum bekehrt.
Jeder einzelne Satz dieser Erzählung ist falsch. Sie zeichnet ein völlig verzerrtes Bild von Jesus und dem Judentum. Sie beschönigt die Entstehung des Christentums und ist bereits Ausdruck christlicher Judenfeindlichkeit. Die wirkliche Geschichte vom Beginn des Christentums geht anders. Diese ist komplex und ihre mühsame Rekonstruktion ist längst noch nicht abgeschlossen.
Exegetische Sicht
Jesus lebte, predigte und starb als toragläubiger Jude. Die kleine Gruppe, die ihm nachfolgte, seiner Botschaft vom nahen Reich Gottes vertraute und ihn später als Messias verkündete, verblieb ganz innerhalb des Judentums. Diese Gruppe öffnete sich nach heftigen internen Auseinandersetzungen für Menschen außerhalb des Judentums und ermöglichte ihnen so Zugang zum Gott Israels. Die Apostel, Stephanus, (fast) alle Verfasser der neutestamentlichen Schriften waren Juden und wollten Juden bleiben. Die messiasgläubige Jerusalemer Gemeinde war eine jüdische Gemeinschaft, keine christliche Urgemeinde. In den Evangelien fällt der Begriff Christen oder gar Christentum kein einziges Mal. Das ganze erste Jahrhundert nach Christus ist genau besehen ein vorchristliches Jahrhundert.
Christliches Selbstverständnis auf Kosten des Judentums
Um die Wende zum 2. Jahrhundert nach Christus gewannen die hinzugekommenen, nichtjüdischen Gemeindeglieder die Oberhand in den messiasgläubigen Gemeinden. Die Verhältnisse kippten: Zunehmend setzten sich unter diesen Hinzugekommenen diejenigen durch, die jüdische Glaubens- und Lebenspraxis nicht mehr duldeten und offen gegen das Judentum polemisierten. Die große jüdische Mehrheit, die Jesus nicht als Messias anerkannte, wurde als verblendet diffamiert. Die biblischen Verheißungen bezogen die messiasgläubigen Gemeinden nun ausschließlich auf sich und verstanden sich als neues Volk Gottes. Israel hingegen galt als von Gott verworfen. Diese Enteignung und der exklusive Anspruch markieren den entscheidenden Schritt aus dem Judentum heraus, hin zu einer nun erst "christlichen" Kirche. Christliche Theologen entwickelten damit ein Selbstverständnis, das dem Judentum die Existenzberechtigung absprach.
Judenfeindlichkeit schon im Neuen Testament?
In den neutestamentlichen Schriften findet sich eine Reihe von polemischen Aussagen über "die Juden", die judenfeindlich gedeutet wurden und zum Teil heute noch so aufgefasst werden. "[Die Juden] missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen", schreibt Paulus im ersten Brief an die Thessalonicher (1 Thess 2,15). Im Matthäusevangelium verflucht sich vor Pilatus "das ganze Volk" selbst, sofern Jesus unschuldig sein sollte: "Sein Blut – über uns und unsere Kinder!" (Mt 27,25). Im Johannesevangelium werden Juden als Teufelskinder verunglimpft: "Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an" (Joh 8,44).
Das sind unerträgliche Worte. Zu bedenken ist, dass die Verfasser dieser unsäglichen Sätze sicher (Paulus) oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit (die Verfasser von Mt und Joh) selbst Juden waren und nur im jüdischen Kontext zu verstehen sind. Ihre polemischen Aussagen als generalisierendes Urteil über "die Juden" verstehen zu wollen, wäre widersinnig. Es waren Urteile "von messiasgläubigen Juden über andere Juden", wie der Neutestamentler Gerd Theißen betont. Zudem werden diese Aussagen durch andere Äußerungen derselben Autoren relativiert oder gar zurückgenommen (vgl. Röm 11,26; Mt 25,31–46; Joh 4,22 u. a.).
Aus ihrem ursprünglichen jüdischen Kontext gerissen und nun von außen auf das Judentum insgesamt bezogene Verleumdung entfalten die genannten neutestamentlichen Verse allerdings eine fatale Wirkung. Die Polemik wird nun für die Angefeindeten zur existentiellen Bedrohung – zumal, wenn diejenigen, die so geifern, über die Macht verfügen, ihren Worten Taten folgen zu lassen.
Judenfeindliche Polemik zieht sich durch die Kirchengeschichte
Ein Beispiel für christlichen Judenhass sind Predigten des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos im 4. Jahrhundert. Dieser verhöhnte Juden als Christusmörder, Blut fressende Hunde, geile Hengste, Schweine und Böcke. Sie seien unkultiviert, undankbar, unmenschlich, verrückt und fluchbeladen. Sie hätten Umgang mit Huren und Lustknaben, schlachteten Menschen und hätten ihre Kinder den Dämonen geopfert. Sie stünden im Bund mit dem Teufel und Gott habe sich endgültig von ihnen abgewandt. Johannes Chrysostomos ist in dem, was er in seinen Predigten verbreitet, keineswegs originell; er greift nur auf, was andere Theologen schon vor ihm in ähnlicher Weise formuliert hatten. Aber seine Predigten belegen, auf welchen Umfang das Repertoire antijüdischer Verleumdungen im 4. Jahrhundert bereits angewachsen war. Fast alle maßgeblichen christlichen Theologen befleißigten sich fortan der Herabwürdigung jüdischer Menschen.
Den Worten folgten Taten
Es blieb nicht bei Schmähungen. Ab der Konstantinischen Wende wurden Jüdinnen und Juden einer Fülle von diskriminierenden kirchenrechtlichen Bestimmungen unterworfen. Dazu zählten das Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden, akademische Grade zu erwerben, Synagogen zu bauen und die öffentliche Kennzeichnungspflicht. Entsprechende Verordnungen waren nicht eigenmächtige Entscheidungen Einzelner, sondern ergingen auf Konzilien wie dem IV. Laterankonzil (1215), dem Konzil von Basel (1434) und dem Konzil von Florenz (1442). Ab dem 11. Jahrhundert kam es in Europa zur Einrichtung von abgesonderten "Judenvierteln". Ganz besonders entwürdigend waren die Zustände im jüdischen Getto in Rom. Da zeigten die Päpste exemplarisch, wie sie sich den Umgang mit jüdischen Menschen vorstellten. Dieses Getto wurde erst 1870 kurz nach dem Einmarsch italienischer Truppen in den Kirchenstaat aufgelöst.
Gewaltexzesse und Pogrome
Christlicher Judenhass war der Nährboden für Gewaltexzesse und Pogrome. Schon Kirchenvater Ambrosius hatte die Zerstörung einer Synagoge durch christlichen Mob gerechtfertigt. Im Zusammenhang mit dem Ersten Kreuzzug wurden im Rheinland Tausende Jüdinnen und Juden ermordet. Das Gerücht angeblicher "Hostienschändung" durch Juden führte 1298 in Franken zu Massenmorden an jüdischen Menschen. Während der Pestzeit wurden sie der "Brunnenvergiftung" beschuldigt, was wiederum Anlass war für Pogrome in vielen Reichsstädten. Durch Predigten aufgehetzt kam es 1391 zu Massakern in Sevilla, die binnen kurzem auf mehr als 70 weitere Städte in ganz Spanien übergriffen. Tausende jüdische Kinder, Erwachsene und Greise wurden dabei gefoltert und ermordet, Zehntausende zur Taufe gezwungen. Jüdische Menschen wurden als perfidi (treulose) verhöhnt, als "Gottesmörder" beschuldigt, immer wieder des Ritualmordes bezichtigt und nach durch Folter erzwungenen "Geständnissen" qualvoll ermordet.
Mitschuld an der Schoah
Bis in die Gegenwart wird christliche Judenfeindlichkeit als nur religiös bedingter Antijudaismus verharmlost und so versucht, diesen in Distanz zum rassistischen Antisemitismus zu bringen. Doch christlicher Judenhass verband sich nahtlos mit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden rassistischen Antisemitismus. Antijüdischer Rassismus findet sich selbst noch in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. "Die Juden waren in der universalen christlichen Gesellschaft und im christlichen Staat ein fremdes, nicht verschmelzbares Element", ist in der Kirchengeschichte von Bihlmeyer/Tüchle nachzulesen, "Der drückende Wucher, den [viele Juden] trieben, war die Hauptursache der immer wieder, besonders zur Zeit der Kreuzzüge, hervorbrechenden Judenverfolgungen." Das ist zynische Schuldumkehr.
Jahrhundertelang, resümiert der Historiker Jules Isaac, "wurde in der gesamten Christenheit ständig gelehrt, dass das jüdische Volk für die Kreuzigung voll verantwortlich ist und das unsühnbare Verbrechen des Gottesmordes begangen hat. Es gibt keine Anklage, die mörderischer ist, und keine, in deren Namen mehr unschuldiges Blut vergossen wurde." Christliche Theologie und Kirchen schürten durch ihre Judenfeindlichkeit antisemitischen Hass. Der Historiker Olaf Blaschke bringt es auf den Punkt: "Ohne die judenfeindlichen Dispositionen unter christlichen Wegweisern und Wegsehern wäre die Shoa nicht möglich gewesen."
Neue Entwicklungen
Die christlichen Kirchen haben in den letzten Jahrzehnten begonnen, ihr Verhältnis zum Judentum neu zu bestimmen. Sie bekennen sich zum Judentum als Wurzel des Christentums und verurteilen jeglichen Antisemitismus aufs Schärfste. Für die katholische Kirche bedeutete das Zweite Vatikanische Konzil diesbezüglich ein Meilenstein. Die evangelische Kirche hat sich im Rahmen der Feierlichkeiten zum Lutherjahr 2017 mit dem Judenhass Luthers auseinandergesetzt und sich von dessen "Judenschriften" distanziert. Die Rheinische Landessynode hatte schon im Jahr 1980 "Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland am Holocaust" anerkannt. Ein entsprechendes Schuldbekenntnis sucht man in den römisch-katholischen Erklärungen bislang vergeblich.
Exklusives Selbstverständnis verhindert Schuldbekenntnis
Das exklusive römisch-katholische Selbstverständnis blockiert die Bereitschaft, sich der eigenen Geschichte schonungslos zu stellen. Mag die Kirche auch aus sündigen Menschen bestehen, sie selbst versteht sich nicht als "Sünderin in dem Sinn, dass sie selber Subjekt und Täterin der Sünde ist". "Die Kirche ist heilig, weil sie von Christus geheiligt worden ist. […] Die Kirche wird in dieser Heiligkeit erhalten vom Heiligen Geist, der ihr Leben und Wirken unaufhörlich innerlich durchdringt und formt", heißt es in der vom Vatikan im Jahr 2000 herausgegebenen Erklärung "Erinnern und Versöhnen". Aber das darin ausgedrückte kirchliche Selbstverständnis verhindert aufrichtige Versöhnung. Angesichts der judenfeindlichen Kirchengeschichte und ihren ungeheuerlichen Folgen kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass der Geist Gottes das Leben und Wirken dieser Kirche unaufhörlich [!] durchdringe und forme. Nicht nur zahllose Gläubige sind schuldig geworden. Die katholische Kirche war im Hinblick auf ihre Vergehen am jüdischen Volk vom Geist Gottes verlassen: Die Kirche trägt Schuld. Diese Schuld muss unmissverständlich bekannt werden.
Keine Selbstvergewisserung auf Kosten Anderer
Wie ist christliches Selbstverständnis möglich, das die Konsequenzen aus christlicher Judenfeindlichkeit und Mitschuld an der Schoah zieht? Ein Selbstverständnis, das keinerlei antijüdische Affekte impliziert oder auch nur begünstigt?
"Die Theorie", dass es zwei verschiedene Heilswege gäbe, nämlich einen jüdischen ohne Christus und einen christlichen durch Christus, wird von der römischen Kirche noch immer abgelehnt, weil dies "tatsächlich die Fundamente des christlichen Glaubens gefährden [würde]". Das Bekenntnis zur "universalen und deshalb auch exklusiven Heilsmittlerschaft Jesu Christi" gehöre zum Kern christlichen Glaubens. Doch die notwendige Revision betrifft gerade diesen Kern christlicher Identität. Christlicher Exklusivismus ist aufzugeben. Ein erster Schritt wäre der Verzicht auf den eingangs genannten Gründungsmythos und die apologetisch gefärbte Selbstdarstellung der Kirche. Stattdessen sind die Einsichten historischer und theologischer, insbesondere exegetischer Forschung anzuerkennen.
Die Revision muss nicht nur auf die Neubewertung des Judentums pochen. Denn die Exklusivität, die das Christentum von Beginn an für sich beanspruchte, richtete sich bald nicht nur gegen das Judentum, sondern blieb ein Markenkern christlichen Glaubens. Opfer christlicher, insbesondere römisch-katholischer Identitätsvergewisserung auf Kosten Anderer wurden im Verlauf der Kirchengeschichte Gläubige anderer Konfessionen und Religionen, sogenannte "Ketzer" in den eigenen Reihen, indigene Völker, die im Rahmen der Kolonisation missioniert wurden, und bis heute Frauen, Homosexuelle, Transgender, Intersexuelle und überhaupt als "anders" wahrgenommene Menschen. Es gibt viel zu tun.
Hinweis
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift "Bibel und Kirche" (Ausgabe 2/2024).