Die Geschichte einer Flucht von Sri Lanka nach Deutschland

Die Odyssee von Debina und Sean

Veröffentlicht am 19.06.2015 um 11:45 Uhr – Von Janina Mogendorf – Lesedauer: 
Debina und ihr Sohn Sean lächeln.
Bild: © privat
Flüchtlinge

Bonn ‐ Debina und ihre Familie leben in Sri Lanka. Sie gehören zur Minderheit der Tamilen. Als ihr Mann, ein Rebell, verschleppt wird, flieht Debina mit ihrem Sohn. Alle Hoffnung ruht nun auf zwei gefälschten Pässen, die ihnen ein neues Leben in Deutschland ermöglichen sollen.

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Dass ihr Mann im Auftrag der Regierung verschleppt wurde, weiß sie, weil die Leute, die ihn verschwinden ließen, kurz darauf bei ihr zu Hause auftauchten. Sie stellten Fragen über ihren Mann und seine Verbindungen und es blieb nicht bei Drohungen. "Sie haben mir Gewalt angetan", sagt sie und wird dann still: "Ich kann darüber nicht reden."

Es ist klar, in Sri Lanka sind Debina und der kleine Sean, die zur Minderheit der Tamilen gehören, nicht mehr sicher. "Für mich spielte es keine Rolle, ob ich überlebe. Aber ich musste an meinen Sohn denken." Ruhig sitzt die bildhübsche Frau da, während sie Sätze von solcher Tragweite sagt. Sean, der heute in einen Kölner Kindergarten geht, mit seinen fünf Jahren schon rechnen kann und Action-Figuren von Transformers mag, ist die Zeit vor seiner Flucht kaum noch im Gedächtnis.

Die Ehe stand unter keinem guten Stern

"An seinen Vater kann er sich gar nicht mehr erinnern", sagt Debina. "Ich bin beides für ihn – Mutter und Vater." Auch vor diesem Tag im April 2013, an dem ihr Mann verschwand, habe er ihn kaum gesehen. "Bei Seans Geburt war er noch dabei. Danach war er meist tagelang für die Rebellen unterwegs und ich war mit dem Baby allein. Ich glaube, ich habe in dieser Zeit mehr geweint, als der Kleine."

Von Beginn an stand die Beziehung zu ihrem Mann unter keinem guten Stern. Während Debina nach dem frühen Tod ihres Vaters gemeinsam mit ihrer Schwester in einem katholischen Konvent aufwuchs, ist ihr Mann Hindu. "Meine Mutter hat sich fürchterlich aufgeregt, als ich schwanger wurde und redete kaum noch mit mir", sagt Debina. "Wir waren unverheiratet, weil Verbindungen zwischen unterschiedlichen Religionsangehörigen in Sri Lanka nicht erlaubt sind. Dazu kam sein Kontakt zu den Rebellen. Das ging beides gar nicht."

Debina und ihr Sohn Sean lächeln.
Ein Strand der Insel Sri Lanka
Debina vor weißem Hintergrund
Debina und ihr Sohn Sean im Park
Galerie: 7 Bilder

Zwei Monate harrt Debina nach der Entführung noch aus, dann setzt sie ihre Mitgift ein, um ihren Sohn und sich außer Landes zu schaffen. "Mädchen in Sri Lanka besitzen Gold, das sie mit in die Ehe nehmen. Ich gab es meinem Onkel. Er besorgte für Sean und mich gefälschte Pässe und organisierte unsere Ausreise nach Deutschland." Ihrem Sohn erzählt sie, dass sie zu einem schönen Ort fliegen, wo es tolle Spielsachen gibt. Während der Dreijährige sich auf die Reise freut und später den Flug verschläft, ist Debina starr vor Angst. Was, wenn die gefälschten Pässe nicht ausreichen, sie enttarnt und zurückgeschickt würden. An die Folgen wollte sie gar nicht denken.

Verständigung mit Händen und Füßen

Doch alles geht gut und das Flugzeug setzt zehn Stunden später auf einer deutschen Rollbahn in Nordrhein-Westfalen auf. Hier sind Sean und Debina für zehn Tage in einem Flüchtlingsheim untergebracht. Während die junge Mutter versucht, sich irgendwie auf die neue Situation einzustellen, ist es für Sean schwierig, zu erfassen, wo sie gelandet sind und was mit ihnen passiert. Alles ist so anders, die Luft, das Essen, so viele fremde Menschen. "Er ist in diesen Tagen keinen Zentimeter von meiner Seite gewichen, so verschreckt war er."

In der Sammelunterkunft gibt es drei Mahlzeiten am Tag - immer dieselbe Suppe. Sean verweigert das Essen. Lediglich ein bisschen Brot mit Schokocreme bekommt er hinunter. Nach eineinhalb Wochen werden die beiden in das 80 Kilometer entfernte Nieheim verlegt. Dort wohnen sie in einem Hotel, in dem viele Flüchtlinge leben. Debina und Sean teilen sich ein Zimmer mit einer Afghanin und ihrem zweijährigen Sohn. Während sich die Frauen mit Händen und Füßen verständigen, spielt Sean zum ersten Mal seit der Einreise wieder mit einem anderen Kind. Als ihm auch das Essen wieder schmeckt, ist Debina sehr erleichtert.

„Es war laut und schmutzig. Viele Flüchtlinge haben getrunken und einige der Kinder waren aggressiv, schubsten und traten nach Sean.“

—  Zitat: Debina

Doch auch das Hotel in Nieheim erweist sich als Übergangsstation. Bald werden Sean und Debina nach Köln gebracht und stellen sich dort beim Ausländeramt vor. Die Verständigung ist schwierig. Während Debina fließend englisch spricht, findet sich auf dem Amt niemand, der die Sprache beherrscht. Alles läuft auf Deutsch ab. Debina versteht nur, dass sie wieder in einem Hotel wohnen werden und für die ersten zwei Tage kostenloses Essen bekommen. Dann steht sie alleine mit ihrem müden Kind, den Koffern und einem Stadtplan auf der Straße und weint. Sie hat keine Ahnung, wie Sean und sie jemals in ihrer Unterkunft ankommen sollen.

Wieder einmal reißt sie sich zusammen und findet schließlich ein Mädchen, das englisch spricht und ihr den Weg erklären kann. Als sie im Hotel ankommen und den kleinen Raum mit Badezimmer beziehen, sind Mutter und Sohn mit ihren Kräften am Ende. Für die nächsten fünf Monate werden die wenigen Quadratmeter für sie Zuflucht und Gefängnis zugleich sein. Debina hat Angst vor der Außenwelt und verkriecht sich. Sie verlässt das Zimmer nur, wenn es nicht anders geht, etwa um in der Gemeinschaftsküche zu kochen. Draußen auf dem Flur herrscht das Chaos. "Es war laut und schmutzig. Viele Flüchtlinge haben getrunken und einige der Kinder waren aggressiv, schubsten und traten nach Sean."

Sean wird immer dünner - er muss ins Krankenhaus

Während Debina versucht, die Schrecken, die hinter ihr liegen, zu verarbeiten, wird der kleine Sean immer stiller. Seine Mutter weint viel in dieser Zeit. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht. "Es tat mir Leid für Sean, aber ich habe zeitweise nicht viel mit ihm geredet, ich musste so viel nachdenken", erinnert sie sich. Wann immer sie sich aufraffen kann, übt sie mit ihrem Sohn zählen und rechnen, versucht ihn abzulenken und ihm die Zeit zu vertreiben. Sie macht sich Sorgen, denn Sean wird immer schmaler. "Ihm fehlten Nährstoffe, weil ich nur einseitig kochen konnte." Irgendwann ist Sean so dünn, dass er im Krankenhaus aufgepäppelt werden muss.

Seans grüner Handabdruck auf weißem Papier
Bild: ©Janina Mogendorf

Seans Handabdruck, der zuhause in seiner eigenen Kreativecke entstanden ist.

Zwei Begegnungen retten sie schließlich aus ihrer Perspektivlosigkeit. In der Gemeinschaftsküche lernen sie eine andere Mutter mit ihrem Kind kennen. Sean und Victor sind bald unzertrennlich und während die Jungen miteinander spielen, traut sich Debina endlich, gemeinsam mit ihrer Bekannten, das Hotel zu verlassen um zum Einkaufen oder in den Park zu gehen. Hilfe kommt schließlich auch von einem Mann, der sich um die Flüchtlinge im Hotel kümmert. Er vermittelt die kleine Familie an den Kölner Flüchtlingsrat, der den beiden zwei ehrenamtliche Flüchtlingsmentorinnen zur Seite stellt.

Der Weg zurück ins Leben

Mit ihrer Unterstützung finden Debina und Sean langsam zurück ins Leben. Ein knappes halbes Jahr nach ihrer Ankunft in Köln sehen sie zum ersten Mal den Rhein. Die Mentorinnen erklären ihr, wie man Fahrkarten kauft, sie gehen mit Sean in den Zoo und ins Schokoladenmuseum und besorgen ihm einen Kindergartenplatz. Die Verständigung funktioniert problemlos auf Englisch und Sean lernt im Kindergarten rasend schnell deutsch. Auch Debina beginnt einen Deutschkurs. Und während das Asylverfahren im Hintergrund weiterläuft, erhalten sie und Sean im August 2014 die Erlaubnis, in eine Wohnung zu ziehen.

"Ich habe mich wahnsinnig gefreut, aber mich auch auf eine lange Suche eingestellt", sagt Debina. "Die meisten Flüchtlinge brauchen ein bis zwei Jahre, bis sie etwas finden. Vor allem, solange ihr Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist." Doch die kleine Familie hat Glück. Die zweite Wohnung, die sie besichtigen, gehört einer bekannten Kölner Schauspielerin, die die beiden sofort ins Herz schließt. Schon am nächsten Tag erhält Debina die Nachricht, dass sie einziehen können.

Seans Kreativecke mit Farben, Stiften und Papier.
Bild: ©Janina Mogendorf

An diesem Schreibtisch bastelt und malt Sean.

Seither leben Mutter und Sohn in einem schönen Altbau mit großen Fenstern und direktem Blick auf die Kölner Severinskirche. Die Nachbarn sind freundlich und die Vermieterin kümmert sich sehr. "Sie fragt häufig nach, wie es uns geht. Manchmal besucht sie uns oder wir gehen gemeinsam einen Kaffee trinken. Und sie hat uns sogar einen Fernseher geschenkt", freut sich Debina. Vor zwei Monaten kam endlich die Nachricht, dass ihr Asylantrag vorläufig angenommen wurde. Jetzt kann die junge Tamilin nach vorne schauen. In einem Jahr wird ihre Situation erneut geprüft, aber je besser sie sich in Deutschland integriert, desto höher stehen die Chancen, dass sie und ihr Sohn dauerhaft bleiben können. Ihr Deutsch möchte Debina weiter verbessern und dann eine Ausbildung machen. "Ich würde gerne Frisörin werden."

"Er soll hier wie ein Deutscher leben."

Sean fühlt sich in der Kindertagesstätte sehr wohl. "Bis vier Uhr ist er jeden Tag dort. Er hat viele Freunde und wenn ich ihn zu früh abhole, schimpft er mit mir", sagt Debina lächelnd. Zu einem sensiblen und sozialen Jungen hat sich der heute Fünfjährige entwickelt. Die Erzieherinnen mögen ihn sehr. Debina freut das. "Sean ist sehr klug. Ich möchte, dass er später studiert und einen guten Beruf erlernt", wünscht sie sich und mehr noch: "Er soll hier wie ein Deutscher leben."

Denn auch, wenn sie ihm etwas über die Kultur der Tamilen vermitteln wird, sind ihr doch die westlichen Werte näher. "Die Freiheit und Wertschätzung, die Frauen hier erfahren, gibt es in Sri Lanka nicht. Ich habe mich immer schwer getan, mit den strengen Regeln und Traditionen dort, hinter denen auch mein Mann stand", erzählt sie. "Ich danke Gott, dass ich meinem Sohn, nach all dem Schrecklichen, was uns passiert ist, hier aufziehen darf."

* Die Namen sind der Redaktion bekannt.

Sri Lanka-Tamilen und der Bürgerkrieg

Sri Lanka ist ein Inselstaat im indischen Ozean, 237 Kilometer von der Südspitze Indiens entfernt. Im Jahr 2012 lebten hier 2,3 Millionen Sri-Lanka-Tamilen, das sind etwa elf Prozent der Bevölkerung. Rund 80 Prozent der Tamilen sind Hindus, daneben gibt es eine christliche (größtenteils katholische) Minderheit, der auch Debina und Sean angehören. Im blutigen Bürgerkrieg, der 1983 begann, kämpften tamilische Separatisten, vor allem der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), um Unabhängigkeit. Der Bürgerkrieg endete 2009 nach 25 Jahren mit einem Sieg der sri-lankischen Regierungstruppen über die Rebellen. Bis dahin hatte er schätzungsweise 100.000 Menschen das Leben gekostet. Bis heute ist der Friede in Sri Lanka brüchig. Das Regime verhält sich autoritär. Eine glaubwürdige Aufarbeitung der Kriegsverbrechen hat nicht stattgefunden und auch nach Kriegsende gibt es Fälle von willkürlicher Haft, Folter und Verschwinden.
Von Janina Mogendorf