Katholische Reliquienverehrung im Zeitalter der Globalisierung

Carlo Acutis – Das Herz eines Toten geht auf Europatournee

Veröffentlicht am 18.07.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Renzikowski (KNA) – Lesedauer: 

München ‐ Der junge, braungebrannte Typ mit Sonnenbrille könnte ein umjubelter Popstar sein. Tatsächlich ist Carlo Acutis bereits im Himmel, auf Tour geht er trotzdem. Statt Fans warten Gläubige auf den "Influencer Gottes".

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Carlo Acutis kommt am Sonntag nach München. Nicht ganz und nicht lebendig, denn der katholische Teenager starb 2006 mit gerade mal 15 Jahren an Leukämie. Auf eine Reise durch halb Europa geht sein Herz in einem rot-goldenen Schrein. Die italienische Inschrift lautet übersetzt: "Die Eucharistie ist meine Autobahn in den Himmel!"

Als "Cyberapostel" und "Influencer Gottes", der demnächst heiliggesprochen wird, hat der eifrige ehemalige Messbesucher aus Mailand eine himmlische Karriere vor sich. München  Berlin  Köln  Hamburg  Amsterdam, die Stationen sind eines Stars würdig. In der Manier von Andy Warhol koloriert, grüßt er popartig porträtiert vom Plakat. Die Tournee zeigt: Reliquienkult funktioniert auch noch in der Postmoderne. Weil es offenbar ein religiöses Bedürfnis gibt, mit Heiligen in einen unmittelbaren sinnlichen Kontakt zu kommen, von ihm berührt zu werden, wie es der Passauer Religionspädagoge Hans Mendl ausdrückt. Er spricht in Anlehnung an eine biblische Erzählung von "Thomas-Gläubigkeit". Ein Jünger dieses Namens ließ sich erst von der Auferstehung überzeugen, als er nach Ostern seinen Finger in die Wunden Jesu legen durfte.

Hoffnung auf Heilung

Das lateinische Wort Reliquie meint zunächst schlicht die Überreste eines Körpers, der Kleidung oder Gebrauchsgegenstände von Personen, die im Ruf der Heiligkeit gestorben sind. An sie knüpfen sich vielerlei Hoffnungen, etwa, von einer schweren Krankheit geheilt zu werden. Deshalb suchen Gläubige ihre Nähe. Vor der Seligsprechung von Carlo Acutis 2020 hatte eine vatikanische Kommission ein solches Wunder amtlich beglaubigt. Ein Junge in Brasilien soll demnach von einer angeborenen Erkrankung der Bauchspeicheldrüse 2010/11 vollständig genesen sein, nachdem er bei einer Andacht eine Reliquie von Acutis berührt hatte. 

Dass einem Verstorbenen dafür das Herz entnommen wird, wäre in den ersten 800 Jahren des Christentums undenkbar gewesen. Für Reliquien verwendet werden durften allein Haare, Zähne und Nägel, "weil sie für die Auferstehung überschüssig schienen", heißt es im "Lexikon für Theologie und Kirche".

Bild: © Associazione Amici di Carlo Acutis

Carlo Acutis

Der selige Carlo liegt seit 2020 in einem Glasschrein in einer Kirche in Assisi, der Heimat des heiligen Franziskus, den der Jugendliche einst selbst sehr verehrt haben soll: altersgemäß in Trainingsjacke und Sportschuhen aufgebettet, einen Rosenkranz in den gefalteten Händen. Dass sein Leichnam bei der Öffnung des Grabes mehrere Jahre nach seinem Tod unverwest gewesen sei, wie manche behaupteten, musste von kirchenoffizieller Seite indes mehrfach dementiert werden.

Der Reliquienkult, den es nicht nur im Christentum gibt, trug stets die Tendenz zur Verselbstständigung in sich. Geschäftemacher witterten einen Reibach mit frommen Seelen und kopierten oder fälschten entsprechende Objekte. So kam es, dass es vom heiligen Peter von Mailand (13. Jahrhundert) plötzlich 21 Beine gab, wie der Kölner Brauchtumsforscher Manfred Becker-Huberti weiß. Die Kirche versuchte das Treiben zu regulieren. Das Vierte Laterankonzil verbot 1215 den Handel mit Reliquien. Doch diese Regeln blieben "praktisch wirkungslos", schreibt der Schweizer Franziskaner-Theologe Josef Imbach. Die Reformatoren lehnten den Reliquienkult kategorisch ab. Und auch längst nicht alle gestandenen Katholiken sind dafür empfänglich.

Ein Holzsplitter seines Bettes

Bei Carlo Acutis fand nicht nur das Herz Eingang in ein edles Behältnis. In der römischen Kirche Sankt Angela Merici sind ein Holzsplitter seines Bettes, ein Stück eines Pullovers sowie ein Fragment des Lakens, mit dem er nach seinem Tod zugedeckt worden sein soll, ausgestellt. Schon im Mittelalter galt: Viel hilft viel. Je größer ein Reliquienschatz, desto besser florierte das Wallfahrtswesen. Wobei stets der Pilger sich auf den Weg zur Quelle des erbetenen Segens machte. Und die dort stationierten Überbleibsel streng bewacht wurden, damit niemand sie als Souvenir mitgehen ließ.

Reliquien auf Reisen sind eine eher junge Zeiterscheinung. Zuletzt war in Deutschland 2022/2023 der Schrein der heiligen Therese von Lisieux unterwegs. Im Herbst treten die in Würzburg aufbewahrten Häupter der Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan einen Kurztrip in ihre irische Heimat an. Das Herz von Carlo Acutis war vergangenen Sommer beim Weltjugendtag in Lissabon. Mendl sieht in dieser Mobilität ein Phänomen der Globalisierung. Etwa nach Art von Museen, die Leihgaben von weither ordern, um ihre Ausstellungen aufzuwerten.

Imbach, 2002 vom Vatikan mit einem Lehrverbot belegt, hat viel Kritisches zur Reliquienverehrung geschrieben. Aber auch er hält fest, dass es jenseits von naiver Wundersucht und Aberglauben eine größere Dimension gibt. "Das Gegenständliche ist nicht unwichtig." Reliquien seien letztlich nichts anderes als "herzergreifend handgreifliche Zeichen, die das vergegenwärtigen, worauf sie verweisen, nämlich die Liebe, die uns mit unseren Toten verbindet".

Von Christoph Renzikowski (KNA)