Der bald heilige Carlo Acutis: Zu Besuch bei der Herzreliquie in Köln
"Ist heute etwas Besonderes?", dreht sich der Mann in der Vorderbank fragend um. Für einen Mittwochabend ist der Kölner Dom überraschend voll. Denn heute ist die Herzreliquie von Carlo Acutis zu Besuch. Seliggesprochen ist er schon. Die Heiligsprechung soll bald folgen. Von Acutis hat der Mann in der Kirchenbank schonmal gehört. Vor der eigentlichen Messe verlassen er und seine Partnerin aber trotzdem die Kirche.
Ansonsten ist das Publikum recht durchmischt, als der Einzug mit Zelebrant Christoph Ohly beginnt. Der Domkapitular und Rektor der in der Öffentlichkeit viel diskutierten Kölner Hochschule (KHKT) schreitet an etwa gleich vielen Frauen wie Männern vorbei, die Altersspanne geht vom Grundschüler bis zur Rentnerin in den 70ern. Die meisten sind Laien, nur vereinzelt finden sich Priester und Ordensleute darunter.
Teil des Einzugs ist auch der ehemalige Kölner Generalvikar Markus Hofmann, der die Reliquie des bald wohl ersten Heiligen der Millennial-Generation in den Händen hält. Diese ist denkbar unscheinbar. Das monstranzartige Reliquiar aus Gold ist etwa 30 Zentimeter groß. Der obere Teil besteht aus einem flachen Zylinder, der mit rotem Stoff ausgelegt ist, und unter einem kleinen Bild des Seligen die eigentliche Reliquie enthält. Doch aus der Entfernung ist das alles kaum zu sehen. Sichtbar ist nur die goldene Schale, die, auf ein Podest zwischen zwei großen Kerzen gestellt, im gigantisch großen Dom aber doch etwas verloren wirkt. Ein kleines Überbleibsel eines Menschen, der so viele Leute in die Kölner Kathedrale gelockt hat.
Ein Kind mit zwei Leidenschaften
Carlo Acutis (1991-2006) hatte als Kind zwei Leidenschaften: Computerspiele und den Glauben. Er empfing – so heißt es – seit seiner Erstkommunion täglich die Eucharistie und setzte mehrere Webseiten auf, mit denen er den Glauben verbreiten wollte. Die bekannteste ist eine Online-Ausstellung über Eucharistische Wunder. Seine Mutter, die immer wieder in den Medien auftritt, legt allerdings Wert darauf, dass er ansonsten ein normales Kind war, das Saxofon und Fußball spielte und sozial gut integriert war. Im Oktober 2006 wurde Carlo krank. Zunächst dachte niemand an etwas Ernstes, doch bald stellte sich heraus, dass er an einer aggressiven Form von Leukämie erkrankt war. Bereits drei Tage später starb er im Alter von nur 15 Jahren. Am 10. Oktober 2020 wurde er seliggesprochen. In diesem Jahr beschloss der Vatikan, ihn auch heiligzusprechen. Im kommenden Jahr an Ostern könnte es soweit sein.
Der Gottesdienst im Dom beginnt so wie viele Gottesdienste zuvor. Ohly erwähnt Acutis zwar zwischendurch einige Male. Aber es geht ihm sichtbar darum, Heilige an sich in ihrer Vermittler- und Vorbildrolle zu Gott zu betonen. Als Evangelium wird das Gleichnis vom Sämann aus dem Matthäusevangelium gelesen. Es endet mit dem Satz: "Wer Ohren hat, der höre!" (Mt 13,9)
Hier setzt Ohly in seiner Predigt an und bezeichnet die Heiligen so wie der große Theologe Hans Urs von Balthasar als "wichtigsten Kommentar zum Evangelium". Das gelte auch für Acutis, in dessen Leben "die Worte des Evangeliums ansichtig geworden" seien. Dabei betont Ohly vor allem den großen Stellenwert, den Acutis der Eucharistie in seinem Leben eingeräumt hat. Auch habe er seine von Gott geschenkten Talente – in seinem Fall das Programmieren – erkannt und in Liebe zu Gott genutzt Er habe mit beiden Beinen auf der Erde gestanden, aber dennoch Menschen bewegt; etwa schüchterne Mitschüler, Verarmte oder Obdachlose, denen er sich zugewendet habe. Die treue Liebe zu Gott, die Dankbarkeit für das Leben und die hoffnungsvolle Großherzigkeit für den Nächsten hätten Carlo zu einem Ermunterer der Menschen des 21. Jahrhunderts gemacht, sagt Ohly. "Er ist ein Vorbild als Mitglied der Gemeinschaft der Heiligen."
Nach dem Ende des Gottesdienstes und dem Segen mit der Reliquie zieht es viele Menschen nach vorn zum Altarraum, wo das Reliquiar steht. Viele machen Fotos, drängeln sich so weit wie möglich nach vorn und zoomen so weit wie möglich, um ein Foto zu machen. Nachdem die Fotojäger zu einem großen Teil weg sind, bleiben jene, die sich in die ersten Reihen oder an die Kommunionbank knien, um still für sich zu beten. Viel Zeit bleibt nicht, denn der Dom schließt bald.
Parallelen zum heiligen Franziskus
Die nächste Station ist aber nur auf der anderen Seite der Domplatte. Im Domforum ist ein Vortrag des Kapuzinerpaters Marco Gaballo angesetzt. Er ist Rektor der Kirche, in der Acutis bestattet ist. Sein Verhältnis zu dem jungen Mann, den er zu Lebzeiten nicht kennengelernt hat, beschreibt er so: "Wir sind Freunde und wir arbeiten zusammen." Dann zieht er Parallelen zwischen dem heiligen Franziskus und Acutis und betont, dass beide "sehr entschlossen" gewesen seien und sich am Ende vor Gott ganz klein gemacht hätten. Er sagt aber auch: Nicht jede Geschichte, die über Carlo im Internet kursiere, stimme. Beim Vortrag hat sich das Publikum merklich geändert. "Regnum Christi"-Shirts sind zu sehen, Besuchende wollen die Acutis-Reliquie berühren und küssen. Als nach dem Segen das "Salve Regina" gesungen wird, sind alle textsicher. Danach hält noch so mancher den eigenen Rosenkranz an die Reliquie.
Es wird spürbar, dass dieser Abend Teil einer konzertierten Tournee ist, die die Gruppe "Freunde Carlo Acutis" zwischen dem 21. und 27. Juli durch Deutschland, die Niederlande und Belgien geplant haben. Neben Köln waren bereits unter anderem Berlin und München Stationen, Amsterdam steht noch auf dem Plan. Mit dem Segen der Reliquie herrscht viel frommes Flair, kritische Töne gibt es nicht.
Dabei stehen hinter Carlo Acutis' Weg zur Heiligsprechung durchaus einige Fragezeichen. So lässt sich etwa seine bekannteste Webseite, die Wunder-Ausstellung www.miracolieucaristici.org, lediglich bis in den September 2008 zurückverfolgen – da war Acutis allerdings schon knapp zwei Jahre tot.
Mutter als mächtige Mitspielerin
Andere Details seines Lebens sind vor allem durch seine Mutter Antonia Salzano bekannt, die seine Verehrung mit Interviews und einem Buch fördert, das es natürlich am Devotionalienstand im Domforum zu kaufen gibt. "Ich habe meinen Vater zu früh verloren, als er 57 Jahre alt war", sagt Salzano in einem Interview. "Carlo erzählte mir, dass er eine Vision von seinem Großvater hatte: Er war im Fegefeuer und brauchte Gebete." Was die Mutter antreibt? Darauf gibt sie in gewisser Weise selbst eine Antwort: "Als mein Vater starb, hatte ich nicht das Gefühl, ein Waisenkind zu sein, aber als Carlo starb, fühlte ich mich so." Diese Geschichte ist also auch die Geschichte eines Verlustes.
Doch Salzano ist nicht die Einzige, die bei der ganzen Sache etwa zu gewinnen hat. Auch der Mönchsgemeinschaft in Assisi kommt der frische Wind sehr gelegen, die Stadt Mailand kann auf Besucher hoffen – und auch dem Vatikan passt Acutis gut ins Programm. Schon immer waren Heiligsprechungen ein kirchenpolitisches Mittel, um sich zu positionieren. Das ist gerade dann von Bedeutung, wenn die Kirche an Oberwasser verliert.
Der mittlerweile verstorbene Münchner Liturgiewissenschaftler Winfried Haunerland sagte katholisch.de einmal, dass nicht zuletzt Papst Johannes Paul II. Heilige als Mittel der Pastoral erkannt hatte. Er wollte mehr Selige und Heilige, die zu Lebzeiten mitten im Leben standen. Das passt auch zum Credo von Papst Franziskus, der sein Augenmerk immer wieder auf die "Heiligkeit von nebenan", also von Alltagsmenschen, legt. Für sie alle ist der früh verstorbene Computer-Selige eine ideale Projektionsfläche.
Zu dieser Maschinerie gehört auch die Tournee der Herz-Reliquie. Denn die ist kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr waren auch die Gebeine der heiligen Bernadette Soubirous auf Reisen. Der Mainzer Dogmatiker Oliver Wintzek übte damals Kritik: "Gleichwohl ist es für den aufgeklärten und gegenwartssensiblen Geist angesichts zahlloser drängender Fragen in Kirche und Welt allemal verstörend, dass im Jahr 2023 nicht nur eine Leiche auf Reisen geht, sondern dadurch auch eine fragwürdige Wundersucht befeuert wird. Stattdessen gilt es, die Probleme der Kirche eigenständig in die Hand zu nehmen!" Soubirous' Gebeine waren damals ebenfalls in Köln
Allerdings kommt die Anziehungskraft von Carlo Acutis nicht von ungefähr: Er ist eine katholische Identifikationsfigur, die nicht vor 300 Jahren gelebt hat, sondern ein Mensch des 21. Jahrhunderts, der, wäre er nicht so früh verstorben, ein Zeitgenosse wäre. Das ist auch der Grund, der die 62-jährige Stephanie Hoppermann nach einem stressigen Arbeitstag hierher verschlagen hat. "Diese Einfachheit, den eigenen Weg zu gehen, sich an Christus zu wenden und sich ihm zu öffnen, das sagt mir was." Die drei Stunden rund um Carlo seien für sie eine kleine Wallfahrt gewesen, die für sie einige Ideen und Erkenntnisse aufgeschlossen habe. "Er ist so alltäglich, von ihm kann ich auch mit 62 noch etwas lernen."