Grabeskirche: Alle Jahre wieder – ein Altar
Seit 2018 berichten Medien in regelmäßigen Abständen über den Fund, der ursprünglich bereits in den 1960er Jahren gemacht wurde. Die neueste Veröffentlichung erfolgte pünktlich zum 875. Weihejubiläum des Altars. Das Wichtigste vorab: Dass die Steinplatte in Verbindung zu einem Altar der Kreuzritter in dem wichtigsten Gotteshaus der Christenheit steht, zieht bislang niemand in Zweifel. Auch darüber, dass die Platte mit einer besonderen Technik der Marmordekoration, dem sogenannten Kosmatesk, besonders kunstvoll verziert ist, besteht Übereinstimmung. Damit ist es allerdings vorbei mit der Einigkeit.
Verantwortlich für das mediale Wiederauftauchen des Artefakts sind der Jerusalemer Bezirksarchäologe der israelischen Antikenbehörde, Amit Re'em, und sein israelisch-russisch-österreichischer Kollege Ilya Berkovich von der Österreichischen Akademie der Wissenschaft (ÖAW) in Wien. Zuletzt am 15. Juli hieß es in einer ÖAW-Pressemitteilung zu dem Fund, das Team sei "vor Kurzem" und "durch Zufall auf den größten bekannten mittelalterlichen Altar" gestoßen, der seit Jahrzehnten als verschollen gegolten habe.
Jerusalempilger berichteten über prächtigen Altar
Am 15. Juli 1149, 50 Jahre nach der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer, wurde bei der Wiedereinweihung der von den Kreuzrittern umgestalteten Kirche durch den damaligen lateinischen Patriarchen Fulcherius auch dieser Altar geweiht. Jerusalempilger im 16. bis 18. Jahrhundert berichteten über einen prächtigen Altar, so Berkovich. Dann kam es 1808 zu einem Großbrand, der weite Teile der Kirche einschließlich der Grab-Ädikula schwer beschädigte. "Seitdem war der Kreuzritter-Altar nicht mehr da – zumindest dachte man das die längste Zeit", so Berkovich. Bis – und hier gehen nun die Interpretationen auseinander – Re'em und sein Kollege die Platte im Nordteil der Kirche entdeckten.
Die Rückseite der Platte ist mit Graffiti moderner Jerusalemreisender übersät, die sich und ihre Botschaften auf dem Stein verewigten. Erst das durch die Bauarbeiten bedingte Umdrehen der Platte habe ihre historische Schönheit offenbart – und den Archäologen die rasche Identifizierung "als die einstmals prachtvolle Frontseite des mittelalterlichen Kreuzritter-Altars" erlaubt. Dass ausgerechnet an dieser Stelle, unter den täglichen Blicken tausender Pilger und Berufschristen "etwas so Bedeutendes so lange unerkannt herumliegen konnte, kam für alle Beteiligten völlig unerwartet", so Ilya Berkovich laut ÖAW. "Niemand, auch nicht der örtliche Klerus, wusste etwas über die Herkunft dieses Steins oder darüber, wann und von wem er an diesem Ort angebracht wurde", heißt es in dem wissenschaftlichen Artikel, den Berkovich und Re'em in der jüngsten Ausgabe von "Eretz Israel" veröffentlichten, einer Fachzeitschrift der Gesellschaft zur Erforschung Israels und der Hebräischen Universität Jerusalem.
Dieser Darstellung widerspricht Franziskanerpater Amedeo Ricco. In jeder Exkursion in die Grabeskirche sei auf den Stein hingewiesen worden, sagt der Archäologe am renommierten "Studium Biblicum Franciscanum" in Jerusalem, gegenüber der KNA. "Weder Geheimnis noch Sensation" seien mit der Steinplatte in Verbindung zu bringen, so Ricco, der gegenwärtig an einem Doktorat über das Grab Christi in der Grabeskirche arbeitet. Eine Darstellung, die weitere Franziskaner und regelmäßige Besucher des Gotteshauses gegenüber der KNA bestätigten.
Von 1970 bis 2016 habe die Steinplatte, deren Fund erstmals vom franziskanischen Archäologen Virgilio Corbo 1969 veröffentlicht wurde, in den sogenannten "Bögen der Jungfrau" im nördlichen Seitenschiff nahe der Sakristei der Franziskaner gestanden. Erst mit den Restaurierungsphasen 2016-17 sowie seit 2022 habe sie im Nordosten der Kirche ihren jetzigen Standort gefunden, unweit des Raums, der als "Gefängnis Christi" bezeichnet wird. "Die schiere Größe der monolithischen Tafel" ist das Argument, das Re'em und Berkovich für ihre These ins Feld führen: dass es sich "um das Paliotto handelt - die verzierte Vorderseite des Kreuzfahreraltars" handele. Der Altar der Krypta der römischen Kirche Santa Prassede dient als Parallelvergleich, obgleich erst aus dem 18. Jahrhundert und nach Einschätzungen mancher nachträglich mit einer Bodenplatte als Altarfront ausgestattet worden.
Verschiedene Theorien
Entgegen dieser Hypothese vertritt Ricco mit Corbo eine andere Theorie. Bei der Platte handele es sich um ein sogenanntes "suppedaneum": die mit dem Altarsockel verbundene Plattform, auf dem Bischof und Priester standen, um die Messe zu feiern. Auch der franziskanische Archäologe Eugenio Alliata, Direktor des Terra-Sancta-Museums in Jerusalem, hält Corbos Interpretation für "wahrscheinlich richtig". Auch er führt sein Argument die Größe des Steins an. 3,50 mal 1,40 maß das Fragment zur Zeit seines Fundes 1969 laut Corbos Veröffentlichung. Bedauerlich sei nur, dass zur Zeit des Fundes nicht mehr Information bekannt geworden sei, so Alliata.
Vorwürfe der israelischen Kollegen, Corbo habe aufgrund eines nur kurzen Blicks auf den Stein "einen verständlichen Fehler" bei der Interpretation gemacht, weist Mitbruder Ricco zurück. Corbo sei bei den griechischen Ausgrabungen anwesend gewesen. Die Fragmente des Pflasters habe sein Mitbruder noch "in situ" gesehen: "in der Mitte des Pflasters des Presbyteriums: sie setzte sich auf einer Seite mit der eigentlichen Basis des Altars fort". Missverständnisse in der Dokumentation ausgeschlossen. Dass Corbo die Platte bereits 1969 und 1981 beschreibt, verschweigen Berkovich und Re'em nicht. Jedoch seien seine knappe Erwähnung "in allen nachfolgenden Studien über die Grabeskirche" ignoriert worden, begründet Berkovich gegenüber der KNA die Sensation ihres Fundes. Entsprechend sei sein und Re'ems Artikel in Eretz Israel "die erste und bisher einzige wissenschaftliche Studie über den kosmischen Hochaltar des Heiligen Grabes" – Worte, denen Ko-Autor Amit Re'em auf Anfrage der KNA nichts hinzufügen möchte.
„Niemand, auch nicht der örtliche Klerus, wusste etwas über die Herkunft dieses Steins oder darüber, wann und von wem er an diesem Ort angebracht wurde.“
2018 erschien erstmals ein Artikel über den Kreuzfahrerfund im renommierten "Smithsonian Magazine". Neben Re'em kommen dort ein anonymer europäischer Archäologe zu Wort, der das Verschwinden des Altars auf alte Spannungen zwischen den an der Kirche beteiligten Konfessionen zurückführt, sowie ein ebenfalls anonymer Kunsthistoriker, der sich von Re'ems Analyse unbeeindruckt zeigt. Vergleichbare Berichte erschienen 2022 und 2023, ebenso wie am 15. Juli 2024, wo es hieß, "vor Kurzem gelang dem Bezirksarchäologen Amit Re"em von der Israelischen Behörde für Altertümer und dem ÖAW-Historiker Ilya Berkovich inmitten der Grabeskirche ein aufsehenerregender Fund".
Die Tatsache, dass der Altar zuvor in der Presse erwähnt worden sei, sei "ein gutes Beispiel dafür, dass akribische wissenschaftliche Arbeit Zeit braucht", kommentiert Berkovich. Man habe die Hypothese zunächst auf akademischen Konferenzen vorgestellt sowie erste Presseartikel veröffentlicht, während die Nachforschungen weitergeführt worden seien. Bis zur Veröffentlichung des wissenschaftlichen Artikel seien"zwei lange, frustrierende Jahre" vergangen. Dafür stehe anstelle einer "radikalen Hypothese" nun eine "seriöse wissenschaftliche Theorie", die von hochrangigen Kollegen unterstützt werde.
Status quo regelt seit 1757 Besitzverhältnisse
In dieser Theorie ist die Verzierung des Altars ein Hinweis "auf eine bisher unbekannte Verbindung zwischen Rom und dem christlichen Königreich Jerusalem". Die Kunst des Kosmatesk, bei der kleine, oftmals wiederverwendete Marmorsplitter wie ein Mosaik zu großen Mustern zusammengelegt werden, war im Mittelalter fast ausschließlich in Italien und dort vor allem in Rom bekannt. Bisher war außerhalb Italiens nur in der Westminster Abbey ein Kosmatesk-Kunstwerk bekannt.
Entsprechend müsse der Altar unter Zutun des Papstes entstanden sein, glaubt Berkovich. Dieser habe durch die Entsendung des Künstlers den christlichen Anspruch auf die Stadt untermauern wollen. "Der Papst würdigte damit die heiligste Kirche der Christenheit." Künftig Anspruch auf den Kreuzfahrerstein haben unterdessen die Griechen. Da der Stein im Katholikon, der griechisch-orthodoxen Hauptkirche, gefunden wurde, darf ohne ihre Zustimmung gar nichts mit dem Stein passieren, bestätigen Ricco und Alliata. So will es der Status quo, der seit 1757 die Besitzverhältnisse des von sechs Konfessionen geteilten Gotteshauses regelt.