Kunstexperte: Nicht jede tafelnde Gemeinschaft zeigt Abendmahl
Auf der Plattform X trendet Tage nach der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris weiter das Stichwort "Abendmahl". Die Gemüter erregen sich darüber, dass Dragqueens mit Tänzern auf einer Brücke über der Seine eine an das letzte Abendmahl Christi erinnernde Szene dargestellt haben sollen. Im Interview erklärt Kunstexperte Jens Burk, Oberkonservator am Bayerischen Nationalmuseum in München und Stellvertreter des Generaldirektors, warum Leonardo da Vincis Darstellung dieser biblischen Szene fast jedem präsent ist, aber nicht jedes Mahl ein letztes Abendmahl ist.
Frage: Eine lange Tafel, in der Mitte eine Dragqueen mit Strahlenkranz, umgeben von queeren Tänzern und Performern. Warum fällt einem sofort Leonardo da Vincis "Das Abendmahl" aus dem 15. Jahrhundert ein, Herr Burk?
Burk: Leonardo da Vincis "Das Abendmahl" ist eines der berühmtesten Bilder überhaupt. Es hat Eingang ins Bildgedächtnis gefunden, selbst von jenen, die sich mit Kunstgeschichte nicht auskennen. Das Werk ist nicht nur kunsthistorisch relevant, sondern auch weil es so viele spannende, manchmal auch witzige Adaptionen und Übersetzungen gibt bis in die Gegenwart hinein. Es ist Teil des popkulturellen Gedächtnisses geworden. Selbst Andy Warhol hat einen ganzen Zyklus daraus gemacht. Und man kennt es verfremdet mit Hollywoodstars oder den Simpsons.
Frage: Hat da Vincis Abendmahl denn von Anfang an für Furore gesorgt?
Burk: Das war tatsächlich so. Unmittelbar nach der Fertigstellung entstanden bereits großformatige Kopien davon sowie Druckgrafiken.
Frage: Orientierten sich venezianische oder niederländische Künstler an seinem Abendmahl, wenn sie es malten?
Burk: Da muss man in jedem Einzelfall schauen, was den Künstlern jeweils als Vorbild diente. Über die Schilderung des letzten Abendmahls hinaus darf man nicht vergessen, dass es noch eine andere Tradition von Bildern mit Tischgemeinschaften gibt. Nicht jeder lange Tisch mit einer tafelnden Gemeinschaft, der einmal gemalt wurde, stellt das letzte Abendmahl dar.
Frage: Wie kommt es aber, dass dieses an der Wand des Speisesaals im Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie gemalte Bild bis heute eine derartige Wirkung hat?
Burk: Leonardo da Vinci hat die Zentralperspektive in einer faszinierenden Art eingesetzt. Die Raumdisposition und der lange Tisch, in dessen Mitte Jesus Christus sitzt. Man hat sogar das Loch eines Nagels gefunden, mit dem der Künstler die Konstruktion der Perspektive vornahm. Es befindet sich dort, wo er die Schläfe von Christus gemalt hat. Die Darstellung ist von perfekter Harmonie.
Frage: Wieso?
Burk: Sie strahlt Ruhe und Konzentration auf das Geschehen aus, welches durch die Wiedergabe der unterschiedlichen Reaktionen der Apostel auf Christi Worte bestimmt wird. Diese sind in zwei Dreiergruppen, die sich links und rechts von Christus befinden, unterteilt. Ich finde es verständlich, dass die Bilder von der jüngsten Eröffnungsfeier für die Olympischen Spiele viele daran erinnern ...
Frage: Aber?
Burk: Man muss deutlich sagen, dass in Paris Figuren gezeigt wurden, die nicht dem christlichen Kontext angehören, die nichts mit Leonardos Abendmahl zu tun haben. Dazu gehören die Tänzer und der Gott des Weines, der blaue Bacchus, vor der Tafel.
Frage: Regisseur Thomas Jolly verwies darauf, für die Szene das "Mahl der Götter" des Niederländers Jan van Bijlert (1598-1691) zum Vorbild genommen zu haben. Wie sehen Sie das?
Burk: Das nun gleichfalls berühmt gewordene Gemälde hängt im Musee Magnin in Dijon. Darauf zu sehen ist das Festmahl der olympischen Götter. Auch dort ist eine lange Tafel zu sehen, mit Apoll als zentraler Figur. Schaut man auf die rechte Dreiergruppe mit Herkules, ähnelt diese entfernt der entsprechenden Gruppe, wie sie da Vinci für sein Abendmahl komponiert hat. Dargestellt sind aber eben mythische Figuren. Doch durch die vordere, sehr bewegte Anordnung von wild tanzendem Satyr und Bacchus wird deutlich, dass hier Götter feiern. Bacchus stützt sich mit einer Hand auf einer Wolke ab und drückt sich über dem Mund eine Traube aus.
Warum da Vincis "Abendmahl" noch immer begeistert
Bücher und Filme wurden schon viele über dieses Bild gemacht: Das "Abendmahl" von Leonardo da Vinci. Doch was macht das Werk des Malergenies so besonders? Ein Blick auf die Details zeigt nicht nur einen besonderen Moment der Bibel, sondern auch ein besonderes Interesse an der menschlichen Natur.
Frage: Kannte Bijlert da Vincis Abendmahl?
Burk: Davon muss man ausgehen. Die Künstler des 17. Jahrhunderts haben sich an den damals bekannten und berühmten Werken der Antike und an den großen Meistern der Renaissance wie etwa auch Michelangelo und Raffael orientiert. Deren Werke waren ja durch Reproduktionsgrafiken verfügbar.
Frage: Galten denn die Anspielungen auf da Vincis Abendmahl bei Bijlerts Götterwerk als Blasphemie?
Burk: Überhaupt nicht. Damals war es gängige Praxis, dass man künstlerische Vorbilder in den eigenen Werken zitiert und dabei umgewandelt hat. Auftraggeber fanden dies absolut hervorragend, wenn sie bekannte Vorbilder in den Werken wiederentdecken konnten. Dabei ging es meist um formale Vorbilder. Wenn die Ikonografie geändert wurde, gab es in der Regel keine Probleme. Einen Skandal hat man daraus nicht gemacht.
Frage: Das Thema des Bilds in Dijon hat eine große Tradition, oder?
Burk: Das Festmahl der olympischen Götter wurde über die Jahrhunderte immer wieder in der Kunst dargestellt. Da ist zum Beispiel Hendrick Goltzius, der Ende des 16. Jahrhunderts einen Kupferstich mit 70 Figuren schuf. In seinem Werk lassen sich einige Elemente finden, die der Maler des Gemäldes in Dijon in seine Darstellung hat einfließen lassen. Im Bayerischen Nationalmuseum haben wir übrigens ein wunderbares, aus Einzelteilen zusammengesetztes Elfenbeinrelief mit dem Gastmahl der Götter. Ein großartiges Werk des Ulmer Bildhauers David Heschler aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.
Frage: Was macht diese Arbeit aus?
Burk: Heschler kombinierte ebenfalls Einzelfiguren und Gruppen aus verschiedenen Vorlagen. Mit diesem spielerischen Verfahren kreierte er ein neues Werk. Beim Gastmahl der Götter jedenfalls herrscht eine ganz andere Stimmungslage als bei da Vincis christlichem Abendmahl. Die Götter feiern ein ausgelassenes Fest, da wird Lebensfreude gezeigt. In Paris wurde das meines Erachtens ebenfalls deutlich.