Frauen hätten über 1.200 Jahre lang Leitungsvollmacht in Kirche ausgeübt

Historikerin: Fokus auf Weihe als Zugang zur Macht ist ahistorisch

Veröffentlicht am 09.08.2024 um 14:59 Uhr – Lesedauer: 

Wien ‐ Das Zweite Vatikanum habe die Verbindung von Weihe und juristischer Leitungsmacht in der Kirche erst festgeschrieben, sagt Historikerin Annalena Müller. Gerade Äbtissinnen seien über Jahrhunderte ein Beispiel für Frauen in Machtpositionen gewesen.

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Laut Historikerin und Journalistin Annalena Müller waren Leitung und Weihe über eine lange Zeit in der Kirchengeschichte voneinander getrennt. "Der Fokus auf die Weihe als einziger Zugang zur Teilhabe an Macht, und damit kirchlicher Mitgestaltung, ist ahistorisch", schreibt Müller in einem Beitrag für das Onlineportal "feinschwarz.net" (Freitag). "Dasselbe gilt für die Festlegung der Frauen auf eine dienende Rolle." Die Bindung der juristischen Leitungsvollmacht an die Weihevollmacht sei erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) kirchenrechtlich festgeschrieben worden. Davor hätten beide unabhängig voneinander existiert, so Müller.

Tatsächlich hätten Frauen über 1.200 Jahre Zugang zur juristischen Leitungsvollmacht gehabt und diese auch ausgeübt. "Zwischen dem Frühmittelalter und der Säkularisierung nach der Französischen Revolution (ab 1789) verfügten Frauenkonvente in ganz Europa über beachtliche, heute kaum mehr vorstellbare Machtfüllen", so die Historikerin. Frauen seien geistliche Anführerinnen ihrer Gemeinschaften gewesen und hätten vor allem im Frühmittelalter in Klosterschulen Jungen ausgebildet, die später Priester wurden. "Die Konvente nahmen Steuern ein, Äbtissinnen sprachen Recht und schickten Soldaten in den Krieg", so Müller. Natürlich seien Klöster auch Orte des Gebets gewesen, gerade für die Gründungsfamilien der Einrichtungen. "Aber daneben waren sie auch Verwalter oftmals weitläufiger Familienbesitztümer, die dem Kloster bei der Gründung übertragen wurden, und örtliche Repräsentanten der Macht."

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Müller ist in einem Forschungsprojekt der Frage nachgegangen, wie sich die Frauenklöster Notre-Dame de Soissons, Fraumünster in Zürich und Buchau am Federsee bis ins 16. Jahrhundert entwickelt haben. "In keinem der Konflikte mit untergebenen Priestern, abhängigen Bauern oder machthungrigen Bischöfen war das Geschlecht der Klosterfrauen Thema", schreibt die Historikerin. "Die Frauen fanden sich über Jahrhunderte hinweg immer wieder in Konflikten mit Untergebenen und Konkurrenten."

So habe etwa die Äbtissin von Notre-Dame ihren Stadtteil immer wieder vor Übergriffen der Bischöfe von Soissons schützen müssen, die versucht hätten, ihre Autorität über die Abtei und deren Gebiete auszudehnen. "Mit wechselnden Allianzen – mal mit lokalen Adeligen, mal mit rivalisierenden Bischöfen oder auch mit dem König in Paris – gelang es den Äbtissinnen, die eigene Macht langfristig zu konsolidieren", so Müller. Allein die Fraumünsterabtei sei langfristig weniger erfolgreich gewesen und habe im 14. Jahrhundert an Macht und Einfluss verloren. Dies habe aber nicht an einer schwächeren weiblichen Autorität gelegen, sondern an wirtschaftlich kurzsichtigem Agieren der Verantwortungsträgerinnen. (cbr)