Hubert Wolf im Vatikan-Archiv: "Das ist wie Troja ausgraben"
"Das ist wie Troja ausgraben." Manchmal kommt sich Hubert Wolf wie Heinrich Schliemann vor. "Wer im Vatikanischen Archiv arbeiten darf, für den wird ein Lebenstraum wahr", beschreibt der Kirchenhistoriker und katholische Priester seine Forschung.
Mehr als 85 Kilometer Akten aus weit über 1.000 Jahren - die ältesten reichen ins achte Jahrhundert zurück. Die Arbeit in dem seit 1612 im Apostolischen Palast errichteten Archiv gleiche vielfach der Suche nach Nadeln im Heuhaufen, schreibt Wolf in seinem am Mittwoch erscheinenden Buch "Die geheimen Archive des Vatikan. Und was sie über die Kirche verraten."
Handschriften, dicke Aktenbündel und Kassetten mit hunderten nicht weiter geordneten Dokumenten: Nur ein kleiner Teil der Akten ist nach heutigen Maßstäben ordentlich registriert und nach Stichworten suchbar. "Das hat viel mit Kriminalistik zu tun", so der 64-Jährige. Überraschungen und neue Erkenntnisse nicht ausgeschlossen.
Droge Vatikanarchiv
Für Wolf hat die vielfach mühsame Arbeit einen Suchtfaktor: "Wer einmal die Droge Archivio Segreto Vaticano inhaliert hat, der muss immer wieder hin", beschreibt er die Pionierarbeit im "Eldorado der Geschichtswissenschaft". Die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther in Händen zu halten, die Inquisitionsakten gegen Galilei vor sich zu sehen, die Durchsetzung des Zölibats in den Akten nachzuverfolgen - hier ist Weltgeschichte eingelagert. Es handele sich um nicht weniger als "das Archiv des ersten Global Players mit Informationsquellen auf der ganzen Welt".
Der Münsteraner Kirchenhistoriker, 2004 mit dem Communicator-Preis der deutschen Wissenschaft ausgezeichnet, hat ein Händchen für kirchengeschichtliche Themen, die eine breite Öffentlichkeit interessieren. Verstörende Skandale im römischen Nonnenkloster Sant'Ambrogio, die Geschichte des päpstlichen Index der verbotenen Bücher oder die Entstehung des Unfehlbarkeitsdogmas im 19. Jahrhundert: In dem neuen Buch präsentiert Wolf keine Neuigkeiten, sondern nimmt den Leser mit auf eine - nicht immer ganz einfach zu lesende - Reise in seine Forschungsgebiete.
Jüdische Bittschreiben an den Papst
Ein Thema liegt ihm derzeit besonders am Herzen: die Bittschreiben von während der NS-Zeit verfolgten Juden an den Vatikan - emotionale Geschichten, auf die der Historiker und sein Team eher zufällig stießen, als sie die 2020 für die Forschung freigegebenen Bestände aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1939-1958) untersuchten. Rund 10.000 solcher Schreiben finden sich in den Vatikan-Archiven; Tausende Menschen aus ganz Europa baten in höchster Not um Hilfe. Ganz oft seien es die letzten Texte, die sie vor ihrer Ermordung geschrieben hätten, sagt Wolf.
War der Papst bereit, verfolgten Juden zu helfen? Wie verbreitet waren antisemitische Einstellungen in der Kurie? Wolf betont, dass bei diesem Thema eine Konzentration auf Pius XII. allein zu kurz greifen würde. Schließlich habe der Papst nur einen kleinen Teil der Schreiben selber zu Gesicht bekommen. Deutlich wird laut Wolf aber, dass Pius XII. sehr detailliert über die Situation der Juden in Europa informiert war. Und dass der Heilige Stuhl bei der Ermöglichung von Auswanderungen vorwiegend nach Nord- und Südamerika durchaus erfolgreich war. Er organisierte Visa und Pässe, finanzierte Schiffspassagen und Flugtickets.
Entscheidungsprozesse im Vatikan
Mit Blick auf die seit Jahrzehnten heiß umstrittene Frage, ob Pius XII. zum Holocaust geschwiegen habe, verweist Wolf auf Archivfunde seit 2020. Durch sie könnten interne Diskussionen und die mitunter verworrenen Entscheidungsprozesse in der Kurie nachgezeichnet werden. Seine These: Der Papst habe zwar in seiner Weihnachtsansprache 1942 den Völkermord aus eigenem Antrieb benannt - allerdings in einer so verklausulierten und diplomatisch verbrämten Sprache, dass Opfer und Täter nur indirekt kenntlich gemacht wurden.
Ein Grund dafür sei die Sorge der Kurie gewesen, dass eine Papstkritik von den Alliierten gegen die Deutschen hätte instrumentalisiert werden können. Der Vatikan hätte dann seine Position der Neutralität eingebüßt. Zudem habe das Kirchenoberhaupt in einer Sackgasse gesteckt: Die Deutschen hatten 1940/41 etwa eine Million katholischer Polen ermordet, und polnische Bischöfe und Gläubige hatten mehrfach vergeblich einen öffentlichen Protest des Papstes gefordert. "Nachdem Pius XII. zum Genozid an den katholischen Polen geschwiegen hatte, konnte er nun zum Genozid an den Juden ebenfalls nicht Klartext reden."