"Müssen überlegen, wie wir so einen Wert in die Zukunft tragen können"

Pädagogen: Deshalb ist "Ehrfurcht vor Gott" wichtigstes Bildungsziel

Veröffentlicht am 28.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 

Augsburg ‐ In einem neuen Buch halten die Schulpädagogen Klaus Zierer und Thomas Gottfried ein Plädoyer für das Bildungsziel "Ehrfurcht vor Gott". Im katholisch.de-Interview erklären sie, warum es aus ihrer Sicht das wichtigste ist und bleibt – und versuchen eine Definition des Begriffs für die heutige Zeit.

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Ehrfurcht vor Gott – klingt das nicht aus der Zeit gefallen? Ganz im Gegenteil, so die Kernthese eines neuen Buchs. Der Augsburger Professor für Schulpädagogik, Klaus Zierer, und sein Mitarbeiter Thomas Gottfried, bis vor kurzem als Gymnasiallehrer für Deutsch und Katholische Religionslehre tätig, halten darin ein Plädoyer für die Ehrfurcht vor Gott als wichtigstes Bildungsziel in der Gesellschaft, wie es etwa in der bayerischen Verfassung steht. Im Interview mit katholisch.de reflektieren Zierer und Gottfried, was Ehrfurcht vor Gott als Erziehungsziel wirklich bedeutet und was die Grundlagen für die Vermittlung dieses Wertes sind. Zudem werfen sie einen Blick darauf, welche Rolle der Religionsunterricht diesem Zusammenhang spielt.

Frage: Herr Zierer, dass Sie als Schulpädagoge ein Plädoyer für das Bildungsziel "Ehrfurcht vor Gott" halten, ist durchaus überraschend. Man würde das Thema eher bei Theologen oder Religionspädagogen vermuten. Wie kam es dazu?

Zierer: In der Schulpädagogik müssen wir sehr allgemein auf Bildungs- und Erziehungsfragen antworten. Für alle Lehrpersonen in Bayern gilt der Artikel 131 der Verfassung als die Grundlage, darauf legt man letztendlich seinen Amtseid ab. Da heißt es im oft zitierten Absatz 1, Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern Herz und Charakter bilden. Im Absatz 2 kommen dann die obersten Bildungs- und Erziehungsziele. Und da steht an erster Stelle die Ehrfurcht vor Gott. Damit ist für mich als Schulpädagogen klar: Ich muss mich damit auseinandersetzen. Ich muss mit den Studierenden darüber reden, was das bedeutet. Gerade die Zustimmung zu diesem Bildungsziel ist unter den Studierenden aber dramatisch gesunken. Deshalb müssen wir überlegen, wie wir so einen Wert, der ja in der Verfassung steht, in die Zukunft tragen können. 

Frage: Es geht also um eine grundsätzliche Debatte über Werte?

Zierer: In der Lehrerbildung ist es unsere ureigenste Aufgabe, Werte zu thematisieren, weil sie das Bindeglied einer Gesellschaft sind. Ohne eine Diskussion über sie bleiben wir oberflächlich, weil wir sonst die Zusammenhänge nicht verstehen. Wie denken wir eigentlich, was ist unser Orientierungsrahmen? Ehrfurcht vor Gott steht deshalb aus unserer Sicht zurecht an erster Stelle bei den Bildungszielen.

Frage: Können Sie das aus der Praxis heraus unterstreichen, Herr Gottfried?

Gottfried: Aus meiner Erfahrung in der Schule ist dieses Bildungsziel hochaktuell. Schauen wir auf die aktuelle Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen: Sie sind heute angesichts der zahlreichen Krisen auf der Welt, vor allem nach der Corona-Pandemie, enorm vulnerabel, orientierungslos und überfordert. Deshalb ist die Ehrfurcht vor Gott kein Sonderthema, sondern fächerübergreifend wichtig, um eine Haltung bei Schülerinnen und Schülern zu unterstützen, die ihnen zu leben hilft.

Buchvorstellung "Ehrfurch vor Gott"
Bild: ©privat

Pfarrer Rainer Maria Schießler, Thomas Gottfried, Martin Goppel (Bayerischer Landesvorsitzender der Katholischen Erziehergemeinschaft) Bayerns Innenminister Joachim Herrmann und Klaus Zierer (von links nach rechts) bei der Vorstellung des Buchs "Ehrfurcht vor Gott – Über das wichtigste Bildungsziel einer modernen Gesellschaft". Schießler steuerte das Vorwort bei.

Frage: Nun wurde diese Verfassung geschrieben, als Bayern noch ein durch und durch katholisch geprägtes Land war. Die Gesellschaft hat sich aber gewandelt, viele Menschen können heutzutage mit Religion gar nichts mehr anfangen. Wie definiert man da konsensfähig, was Ehrfurcht vor Gott bedeutet?

Zierer: Den Gottesbegriff kann man runterbrechen auf ein übergeordnetes Prinzip, letztendlich eine Grundidee der Welt. Ich habe das bei der Buchvorstellung an verschiedenen Beispielen deutlich gemacht: Gäbe es dieses Prinzip nicht, könnten wir unsere Vernunft gar nicht einsetzen, weil dann alles Chaos wäre, sodass wir gar keine Regelmäßigkeiten, keine Gesetzmäßigkeiten erkennen können. Das heißt, es gibt etwas Höheres, das uns Menschen Ordnung verschafft, alles zusammenhält. Das wäre eine einfache Zugangsweise zum Gottesbegriff. Damit kann sich auch ein Atheist oder ein nicht-gläubiger Mensch identifizieren. Ich kenne keinen Atheisten, der nicht anerkennt, dass die Menschen aus gewissen Prinzipien bestehen, dass eine Grundidee von der Welt existiert und dass alles irgendwie zusammenpasst.

Und nun zum Ehrfurchtsbegriff: Wenn sich der Mensch damit auseinandersetzt, dass es etwas Höheres gibt und eine Schöpfung, die man zwar erkennen, aber nicht nachmachen kann, dann lässt ihn das ein Stück weit ehrfürchtig zurück. Er muss sich diesem Höheren irgendwie anpassen, damit er existieren kann. Die Ehrfurcht vor Gott ist also eine Haltung des Menschen zu sich und seiner Welt.

Frage: Das heißt, es geht im Endeffekt auch um eine erweiterte, ganzheitliche Sicht auf den Menschen.

Gottfried: Genau. Den Menschen als ein Wesen zu sehen, das nach Sinn fragt, ist aus meiner Sicht konsensfähig. Der Mensch lebt nämlich nicht nur zweckorientiert. Er macht existenzielle Erfahrungen, die ihn an den Rand bringen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wie gehen wir mit dem Tod um? Wie mit Scheitern? Wir nennen das pädagogische Anthropologie: Der Mensch ist ein Wesen der Sinnverwiesenheit und der Transzendenzoffenheit. Er hat die Möglichkeit, nach Gott zu fragen. Das nehmen wir auch bei Kindern und Jugendlichen mehr denn je wahr. Sie bekommen eben nicht mehr die traditionellen Antworten aus volkskirchlichen Strukturen, weil alles unübersichtlicher komplexer, vorläufiger geworden ist. Aber darin liegt eine auch Begründung für die Zeitlosigkeit des Themas.

Frage: Sie sagen, dass die Ehrfurcht vor Gott nach wie vor das wichtigste Bildungsprinzip ist. In Ihrem Buch begründen Sie dies damit, dass sie einen generellen Rahmen für Bildungsprozesse bildet. Inwiefern?

Zierer: Alle anderen Bildungsziele ergeben sich gewissermaßen aus der Ehrfurcht vor Gott. Ob wir über Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt sprechen, über Selbstbeherrschung, über das Einbringen in die Gesellschaft – die einzelne Person nimmt sich zurück, weil sie anerkennt, dass es etwas Größeres gibt und sie nicht der Mittelpunkt ist. Ein weiterer Aspekt betrifft das Bildungsdenken: Nicht so sehr das Wissen und Können entscheidet darüber, wer ich als Mensch bin. Letztendlich soll es mir dabei helfen, einen Sinn im Leben oder Orientierung zu finden. Sozusagen ein humanes Leben zu führen. Dafür sind Werte entscheidend, die im Unterricht vermittelt werden müssen. Dafür braucht es Freiraum und deshalb muss vieles in den Lehrplänen auf den Prüfstand.

Ein Schüler liest konzentriert ein Buch
Bild: ©KNA/Elisabeth Schomaker (Symbolbild)

"Nicht so sehr das Wissen und Können entscheidet darüber, wer ich als Mensch bin. Letztendlich soll es mir dabei helfen, einen Sinn im Leben oder Orientierung zu finden. Sozusagen ein humanes Leben zu führen. Dafür sind Werte entscheidend, die im Unterricht vermittelt werden müssen", sagt Klaus Zierer.

Frage: Das heißt dann in der Konsequenz aber auch, dass man einen anderen Ansatz bei der Lehrerbildung braucht. Ein Lehrer muss so eine Haltung erstmal lernen, um sie vermitteln zu können.

Zierer: Hier müssen wir umdenken und die Professionalisierung bereits in der ersten Phase stärker auf diese Haltungsarbeit ausrichten, auf die Lehrerrolle und die Idee, wer ich als Lehrperson bin. Welche Bildungsvision nehme ich mit? Was möchte ich den Lernenden geben, wie möchte ich die Gesellschaft weiterentwickeln? Diese Fragen stehen im Zentrum jeder Pädagogik, und die müssen wieder stärker in die Lehrerbildung eingebracht werden.

Frage: Wie sehen Sie das als jemand, der bis vor kurzem in der Praxis tätig war, Herr Gottfried?

Gottfried: Aus Lehrersicht würde ich ergänzen: Die Prioritäten müssen etwas zurechtgerückt werden. In den vergangenen Jahren hat sich in der Bildungspolitik der Fokus von dem wegverschoben, was eigentlich zentral ist: die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern als die tragende Grundlage für Bildungs- und Erziehungsprozesse. Bildung erschöpft sich nicht darin, den Lehrplan möglichst komplett durchzuboxen. Es ist eine Interaktion zwischen Menschen, und da kann das Thema "Ehrfurcht vor Gott" wieder ins Bewusstsein rücken, worum es eigentlich geht. Auch Lehrer sollten eine gewisse Demut haben. Auch sie machen wie die Schüler Fehler. Wenn ich weiß, ich bin ein Geschöpf Gottes, die Schüler sind Geschöpfe Gottes, wird das die Atmosphäre ganz anders prägen, als wenn man wie in einer Lernfabrik dem Lehrplan hinterherhechelt.

Frage: Jetzt müssen wir natürlich noch zum Religionsunterricht kommen. Für vieles, was Sie ansprechen, wäre er ja der geeignete Ort. Andererseits wird er immer wieder in Frage gestellt. Ist Ihr Buch auch als Anfrage an den Religionsunterricht gedacht, sich zu reflektieren?

Gottfried: Der Religionsunterricht muss sich schon auch in Frage stellen lassen – das sage ich jetzt als Religionslehrer –, ob oder inwieweit man diesem Anspruch in den vergangenen Jahren gerecht geworden ist. Ich habe mich selbst immer wieder gefragt: Macht der Religionsunterricht das Beste aus seinen Möglichkeiten, um dem Bildungsziel "Ehrfurcht vor Gott" zu entsprechen? Ich formuliere das als offene Frage, weil das wirklich schwer ist. Einerseits soll man ja keinen Katechismusunterricht mehr wie in den 1950er-Jahren machen. Andererseits soll sich der Religionsunterricht aber auch nicht in der Sozialpädagogik erschöpfen. Die Schüler sollen an die traditionellen Prinzipien des Christentums herangeführt werden, gleichzeitig soll man aber auch die Lebenswelt der Schüler miteinbeziehen, die säkularisierte Gesellschaft, in der sie aufwachsen, die religiöse Unmusikalität, von der manche sprechen. Man bewegt sich da in den fast unvereinbaren Polen Traditionalität einserseits und Moderne andererseits. Dafür gibt keine Musterlösung. Man muss diese Spannung aushalten und sich jeden Tag neu fragen, ob man ihr gerecht wird.

Frage: Aber gibt es Ansätze, sich diesem beschriebenen Spannungsverhältnis zu stellen?

Zierer: Wir haben in unserem Buch etwas empirische Bildungsforschung aufgenommen. Es gibt die sieben Cs, die sich von den englischen Begrifflichkeiten ableiten: Der Unterricht muss zum Beispiel herausfordernd, motivierend sowie lebensnah sein und Formen der Kommunikation haben. Wir haben lang über den Religionsunterricht diskutiert und welche Aufgaben er erfüllen soll: Wie schafft man es, dass er nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch Glaubenserfahrungen ermöglicht? Das wäre zentral. Das könnte man angehen, indem man diese sieben Cs ins Zentrum rückt und alles, was beispielsweise in der Bibel vermittelt wird, auch immer mal kurzschließt mit der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Gerade beim Thema Glauben geht es ans Eingemachte. Da geht es um mich als Menschen. Wenn ich die Bibel lese, dann doch deswegen, weil ich aus diesen Geschichten einen Impuls für mich ziehen will. Das sollte im Religionsunterricht viel stärker berücksichtigt werden.

Gottfried: Die Würzburger Synode (1971-1975) hat das Prinzip der Korrelationsdidaktik in den Mittelpunkt gestellt: Glauben lernen, Leben lernen. Damit ist der Mensch nicht nur als Adressat von Inhalten und Wiedergeber von Wissen erfasst. Es soll bei jedem Thema um die Frage gehen: Was steckt dahinter? Selbst bei einem kirchengeschichtlichen Thema wie dem Gang nach Canossa kann man sich fragen: Was bedeutet Macht im Leben von Menschen? Wenn ich mich bemühe, kann ich zumindest versuchen, jedes Thema auf seinen menschlichen Gehalt hin zu durchleuchten. Damit kann ich zumindest einen Teil der Schüler erreichen – so wie man in jedem anderen Fach immer nur einen Teil der Schüler erreicht. Damit wäre schon ganz viel gewonnen.

Von Matthias Altmann

Buchtipp

Klaus Zierer, Thomas Gottfried: Ehrfurcht vor Gott – Über das wichtigste Bildungsziel einer modernen Gesellschaft, Verlag Waxmann 2024, 120 Seiten, ISBN: 978-3-8309-4890-2, 19,90 Euro.