Ehemalige Äbtissin: "Wollte radikal für und mit Gott leben"
Ihr Nachname ist ungewöhnlich. "Den habe ich von meinem Vater, der aus Turkmenistan stammte und ein liberaler Muslim war", erzählt Carmen Tatschmurat, die in München geboren wurde. Dort lernten sich Ende der 1940er Jahre ihre Eltern kennen. Ihre Mutter kam aus der Tschechoslowakei und ihr Vater arbeitete damals beim US-amerikanischen Sender "Radio Freies Europa". Bald danach wurde Carmen Tatschmurat geboren. Weil ihre Mutter katholisch war, wurde sie getauft und im Glauben erzogen. Nach der Trennung ihrer Eltern wuchs Tatschmurat bei ihrer Mutter und bei der Tante auf. Sie hielt zeitlebens eine gute Beziehung zu ihrem Vater aufrecht. "Durch ihn lernte ich einen offenen Umgang mit anderen Religionen", blickt die heute 74-Jährige zurück. In ihrer Jugend war Tatschmurat in einer von Kapuzinern geleiteten Pfarrei und später in einer Jugendgruppe der Jesuiten in München aktiv. Dort erlebte sie Ende der 1960er Jahre, wie sich durch das Zweite Vatikanische Konzil manches änderte. "Ich war voller Erwartungen für die Kirche", sagt Tatschmurart. Dass die deutsche Sprache in die Liturgie einzog, empfand sie als große Erleichterung. Nur dass "sich für uns Frauen wenig änderte", war für sie eher enttäuschend.
Nach der Schule begann Carmen Tatschmurat Soziologie zu studieren. "Meinen Glauben, insbesondere die Auseinandersetzung mit kirchlichen Themen hatte ich damit erstmal auf die Seite geschoben", erzählt die Wissenschaftlerin. Gemeinsam mit anderen Soziologinnen gründete sie damals die "Frauenakademie München", ein außeruniversitäres Forschungsinstitut für Frauen- und Geschlechterfragen. Später, ab 1991 lehrte sie an der Katholischen Stiftungshochschule in München, unter anderem zu frauenspezifischen Themen der Sozialen Arbeit. Weitere Schwerpunkte waren die Resozialisierung und soziale Ungleichheit in der Gesellschaft. "Beruflich war ich erfolgreich, verdiente gut, besaß eine schöne Wohnung", blickt Tatschmurat auf ihr Leben zurück. Dennoch stellte sich damals die Frage, was Gott von ihr wollte. Lange Zeit schon lebte sie in einer Beziehung. "Mein Partner war deutlich älter als ich und Jude." Durch ihn erwachte ihr Interesse am Glauben neu und sie begann, die Bibel in der Originalsprache zu lesen. Als ihr Partner überraschend starb, waren ihre "Lebensfragen auf einmal wieder da", erinnert sich die promovierte Soziologin.
Mit 47 Jahren wagte sie einen Neuanfang
Bei Exerzitien im Kloster der Missionsbenediktinerinnen am Starnberger See spürte sie auf einmal eine innere Ruhe, die sie nicht mehr losließ. Dreimal am Tag alles liegen und stehen zu lassen, um sich gemeinsam ganz auf Gott auszurichten, "das elektrisierte mich förmlich", so Tatschmurat. So radikal für und mit Gott zu leben, wollte sie auch. Kurz danach lernte sie die benediktinische Kommunität Venio in München kennen. Dort wusste sie gleich, dass dies der richtige Ort für sie sein könnte, so die Benediktinerin. Ein Grund war, dass die Schwestern in dem "Stadtkloster" sich bemühten, Gemeinschaft, Berufstätigkeit und das Leben nach den monastischen Gelübden zu verbinden. Für sie war ein starkes inneres Wissen, dass "ich dort hingehöre und eintrete", sagt Tatschmurat. Damals war sie 47 Jahre alt und wagte einen "Neuanfang". Ihren Vornamen konnte sie nach dem Klostereintritt behalten. Sie wurde Schwester Carmen.
Die Abtei Venio ist im Münchner Stadtteil Nymphenburg in einer alten Villa untergebracht. Seit 1952 lebt die Kommunität in diesen Räumlichkeiten. Derzeit sind es 15 Schwestern, die zur Gemeinschaft gehören sowie ein kleinerer Konvent in Prag. Alle Schwestern kommen gemeinsam für ihren Lebensunterhalt auf. So arbeiten zwei Ordensfrauen als Ärztinnen, zwei sind Lehrerinnen, eine andere arbeitet in einem Privathaushalt, eine ist Sozialarbeiterin und eine Schwester ist Juristin. Auch Schwester Carmen konnte nach ihrem Klostereintritt weiterhin als Professorin an der Stiftungshochschule in München arbeiten. Jedoch nur in Teilzeit, wie die anderen Schwestern auch, "damit uns genügend Zeit für die Gemeinschaft und das Gebet bleibt", erklärt die Ordensfrau.
Drei Mal täglich kommen die Benediktinerinnen zum Gebet in der Klosterkirche zusammen. Das Stundengebet wird meist in Deutsch, seltener in Latein gesungen, manche Psalmen sogar in Tschechisch. Interessierte sind eingeladen, mitzubeten. Für die Eucharistiefeier der Gemeinschaft kommen abwechselnd Priester ins Kloster, "mit denen wir geschwisterlich verbunden sind", berichtet Schwester Carmen. Wie bei anderen Gemeinschaften auch, ist dies nicht mehr täglich möglich. "Dann integrieren wir Lesung und Evangelium des Tages in unser Chorgebet", erklärt die Ordensfrau. Das sei stimmig und nahe an der Benediktsregel. Diese gemeinsamen Gebetszeiten "fangen uns immer wieder im Alltag auf". Zum Gebet tragen die Ordensfrauen einen schwarzen Chormantel mit Schleier. Tagsüber sind die Benediktinerinnen aber in ihrer zivilen Alltagskleidung unterwegs. Dazu haben sich schon die Gründungsschwestern der Gemeinschaft vor knapp 100 Jahren entschieden.
Wahrnehmen, was für Frauen längst Alltagspraxis in der Kirche ist
Einen Zugang zum Priesteramt für Frauen wie für Männer findet die Ordensfrau längst überfällig. Ihr Blick geht heute mehr auf das, was für Frauen, insbesondere in den Klöstern, längst Alltagspraxis ist. "Das sollten wir selbstbewusst wahrnehmen", so die Münchner Benediktinerin. Gemeinsam können Frauen die tägliche Liturgie gestalten, die Oberin einer Gemeinschaft könne Schwestern für seelsorgliche Dienste untereinander und auch nach außen hin ernennen und Frauen können anderen Menschen Segen und Vergebung zusprechen sowie Kranken und Sterbenden beistehen. Auch wenn das laut Schwester Carmen sozusagen "unterhalb" der sakramentalen Ebene geschieht. Sie erlebe eine große Nachfrage nach geistlicher Begleitung, nach Gesprächen in Krisen und an Lebenswenden. "Dafür sind wir als Ordensgemeinschaft da, soweit unsere Kräfte es erlauben", betont die Ordensfrau.
In ihrer Gemeinschaft war sie früher für die Ausbildung der Novizinnen zuständig. 2010 war sie Priorin ihrer Gemeinschaft. 2013 wurde die Kommunität Venio durch Erzbischof Kardinal Reinhard Marx zur Abtei erhoben. Schwester Carmen Tatschmurat war die erste Äbtissin der Gemeinschaft. Einige Jahre lang hat sie dieses Amt ausgefüllt. Nun vor drei Jahren hat Schwester Carmen das Amt an ihre gewählte Nachfolgerin Schwester Francesca aus Prag abgegeben. Heute übernimmt die 74-jährige Ordensfrau andere Aufgaben in der Gemeinschaft und ist zum Beispiel für die Betreuung der Gäste zuständig. Die Gemeinschaft lädt gerne Menschen in die Abtei Venio ein - zu Tagen der Stille, zu Lesungen, Konzerten oder Kunstausstellungen. "Wir möchten unseren idyllischen Ort gerne mit anderen teilen", freut sich Schwester Carmen.
Erst kürzlich hat die Ordensfrau ein Buch über "Kleine Gemeinschaften" herausgebracht. Darin stellt die Benediktinerin zehn Gemeinschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. "Solche kleinen Klosterzellen sind vielleicht die Zukunft der Orden", meint Schwester Carmen. Denn sie seien nicht mit jahrhundetealten Traditionen und riesigen Immobilien belastet und daher flexibler in ihren Entscheidungen. Außerdem könnten sie seelsorglich spontaner auf manches reagieren, betont die Ordensfrau. So wie sie es in der Gemeinschaft Venio in München erlebt. Für Carmen Tatschmurat ist das ihr zuhause geworden - seit fast 30 Jahren - nach dem sie so lange gesucht hat.