Opus-Dei-Sprecher: Christentum ist kein Ponyhof
Seit bald 100 Jahren gibt es das Opus Dei. 1928 vom mittlerweile heiliggesprochenen spanischen Priester Josemaría Escrivá de Balaguer y Albás gegründet, gehören heute etwa 92.000 Menschen dem Opus an. Sie unterteilen sich in die Numerarier, zölibatär lebende Männer in Opus-Dei-Häusern, Assoziierte, Zölibatäre in eigenen Wohnungen und Supernumerarier, die verheiratet sind. Oft standen und stehen das Opus Dei und sein Gründer wegen Selbstkasteiung und fragwürdigen politischen Initiativen in der Kritik. Im Interview spricht der Sprecher des Opus Dei in Deutschland, Ulrich Nagel, über die Entwicklung der Personalprälatur. Nagel leitet ein vom Opus Dei betreutes Studentenwohnheim in Köln.
Frage: Herr Nagel, das Opus Dei steuert auf seinen hundertsten Geburtstag zu. Was hat sich seit 1928 verändert?
Nagel: Es ist einfacher zu sagen, was sich nicht verändert hat: Die Treue zur Botschaft, zum Gründungsgeist, nämlich den Menschen eine Hilfestellung zu bieten, um innerhalb ihrer alltäglichen Beschäftigung eine Gottesbegegnung zu haben. Lange war das in der Kirche durch einen Fokus auf die Heiligkeit in Klosterleben und Priesteramt etwas verschüttet. Bei uns geht es um die Würde des Laien. Deshalb spielt sich bei uns auch viel in Privathaushalten und in persönlichen Begegnungen ab. Wir haben keinen großen organisatorischen Überbau, sondern es geht viel um das individuelle Glaubensleben. Allerdings haben wir eine Entwicklung durchgemacht. Anfangs hat der heilige Josémaria Escrivá vor allem mit Studenten gearbeitet, es ging also zunächst um Akademiker. Durch das Wachstum des Opus Dei ist das Spektrum breiter geworden und verändert sich weiter. Wie andere Teile der Kirche auch haben wir es mit einem Rückgang an Menschen zu tun, die zölibatär leben wollen. Generell wachsen wir aber. Es gibt viele junge Väter und Mütter, die über diesen Weg als verheiratete oder auf dem Weg zur Ehe Befindliche ihre Berufung zum Opus Dei entdecken.
Frage: Wie sieht die "Heiligkeit im Alltag" denn konkret aus?
Nagel: Es gibt zunächst den Tagesrahmen, der eine Empfehlung, aber keine Pflicht ist: Wer es kann, sollte die Heilige Messe besuchen, dazu kommt eine Zeit des persönlichen Gebets. Dafür gibt es von uns auch Hilfestellungen. Dazu kommen immer wieder Begegnungen und das Gespräch über die momentanen Fragen des Lebens – allen voran die berufliche Arbeit. Ziel ist, eine Ruhe der Seele zu erzeugen, also Aktion und Kontemplation zu fusionieren. Das geht zum Beispiel bei Einkehrabenden, die monatlich stattfinden. Es gibt Angebote für Väter, Studentinnen, Berufstätige – je nach Lebenssituation. Dazu gehören Zeiten für Anbetung, Beichte und gemütliches Beisammensein.
Frage: Wie festgelegt ist das denn? Es gibt ja durchaus auch Anleitungen, dass etwa jeder Tag mit einem "Serviam" begonnen werden soll.
Nagel: Man muss gar nichts. Manchmal kommen Leute zu mir und sagen, sie hätten etwa eine Gebetszeit verpasst, weil ihre Familie sie gebraucht habe – aber das ist ja idealerweise auch eine Form der Gottesbegegnung. Am Ende sollen diese ganzen kleinen Einheiten innerhalb des Tages, sei es morgens ein bewusstes Bekenntnis zum Dienen oder auch die Heilige Messe eine Hilfe sein, damit idealerweise der ganze Tag in dieser Gottesbegegnung stattfindet. Das klingt krass, ich weiß. Und ich wage nicht zu behaupten, dass ich das selbst schon realisiert habe. Aber ich habe das Vertrauen, dass diese tägliche Übung zu einer tieferen Freundschaft mit Christus führt.
Frage: Aber erzeugt das nicht auch einen gewissen Druck? Ehemalige Mitglieder berichten von einer Art Kapitalisierung des Glaubens: Dass man ein gewisses Maß erreichen, so und so viele Leute anwerben muss.
Nagel: Wenn es so exerziert wird, auf jeden Fall. Aber so funktioniert Glaube im 21. Jahrhundert nicht. Also ich würde mir lieber eine Hand abschneiden, als Leute zu fragen: Hast du das und das erledigt? Wer sich heute entscheidet, ganz in Hingabe an Gott zu leben, macht sich an ein sehr anspruchsvolles Programm. Das läuft nicht nach Checkliste, das geht nur in Freiheit.
Frage: Ehemalige Mitglieder berichten Anderes.
Nagel: Wenn Ehemalige davon berichten, muss man ihnen zunächst einmal Glauben schenken, dann muss da irgendetwas vorgefallen sein. Mich beruhigt, dass diese Berichte alle aus einer ähnlichen Zeit kommen, in den letzten 25 bis 30 Jahren kam da nichts mehr. In den 1970er Jahren ist das Opus Dei stark gewachsen und wurde institutioneller, es gab eine Berufungsschwemme. Da sind junge Menschen in eine Leitungsposition gekommen, die darauf nicht gut vorbereitet waren. Da entsteht schnell der Hang, in erster Linie eine Form zu erfüllen, um die Kontrolle zu bewahren. Heutzutage gibt es für so etwas Coachings, die wir systematisch anbieten. Denn Kontrolle bringt heute nichts mehr.
Frage: Umstritten ist auch die Nutzung von Bußgürteln als Empfehlung für Numerarier. Ist das noch aktuell?
Nagel: Jeder, dem das hilft, kann es machen. Wem es nicht hilft, der soll es lassen. Es spielt keine Rolle, ich kann niemandem etwas vorschreiben. Wer mich danach fragt und das ausprobieren möchte, kann das probieren, aber ich werde das niemals jemandem sehr ans Herz legen, als ob seine Berufung davon abhängen würde.
Frage: Sind Bußgürtel Teil der Opus-Dei-Spiritualität?
Nagel: Nein.
Frage: Escrivá war dem Bußgürtel ja durchaus zugetan...
Nagel: Und er hat auch selbst einen benutzt! Aber er hat auch immer klar gesagt: Ahmt mich in keiner Weise nach, außer in der Liebe zur Gottesmutter. Ich mache mein Ding und ihr macht euer Ding. Die Freiheit ist uns sehr wichtig. Wer sich freiwillig dafür entscheidet, dann ist das Privatsache.
Frage: Die Privatsache steht natürlich im Gegensatz zum gemeinschaftlichen Leben und Glauben.
Nagel: Diese gemeinschaftliche Form pflegen wir in Häusern wie diesem hier, wo es darum geht, junge Menschen irgendwie einen Zugang zur Kirche, zum Glauben, zu Christus zu ermöglichen. Das geht bei jungen Menschen heutzutage meist nur über Gemeinschaft. Darüber hinaus besteht die Opus-Dei-Spiritualität seit 1928 darin, dass jeder an dem Platz, wo er ist, seinen Möglichkeiten entsprechend seine Berufung lebt. Nicht die Gemeinschaft ist bei uns der Schwerpunkt, sondern dass jeder Einzelne in seiner persönlichen Umgebung sein Apostolat lebt.
Frage: Bleiben wir noch ein wenig bei Escrivá. Als er das Opus Dei aufgebaut hat, waren es die 1930er Jahre in Spanien, der Faschismus wurde stärker und mit ihm Francisco Franco, der später spanischer Diktator werden sollte. Für ihn und seine Frau gab Escrivá später Privatexerzitien. Dieses Erbe lässt sich auch in seinem bekanntesten Buch Camino erkennen: Er schreibt da von einem Feldzug für Männlichkeit und Reinheit, von den Feinden, gegen die man sich wenden muss, vom unbedingten Gehorsam vor den Vorgesetzten usw. – alles nicht ganz unproblematisch. Wie steht das Opus Dei zu seinem Gründer heute?
Nagel: Man muss Escrivá in seiner Zeit sehen. Natürlich gibt es solche Sachen, die er schreibt. Er schreibt aber auch davon, für die zu beten, die ihn verfolgen. Er wollte kein kritisches Wort über diejenigen fallen lassen, die ihn verleumdet oder verfolgt haben. Aber natürlich gibt es bei ihm Vergleiche mit dem Militärwesen, die es aber auch etwa bei Ignatius von Loyola oder dem heiligen Paulus gibt, also den Grundlagen von Escrivá. Ich sage es mal so: Jede Institution hat Grundlagen, entwickelt sich aber auch weiter. Wir wissen, dass unser Gründer ein Heiliger ist, ein Visionär etwa für die Rolle der Laien und besonders der Frau, als Vorbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils. Er hat sich schon früh für Frauen im Beruf und in Verantwortungspositionen stark gemacht. Er hat keinen einzigen Satz gesagt, den man zensieren müsste. Aber zeitliche Einordnung ist wichtig. Dass der Militärgedanke heutzutage in einer Welt, die Frieden kennt, Gott sei Dank nicht mehr so präsent ist. Und dass wir in unseren Bildungsangeboten die Vokabeln Krieg und Soldaten und Waffen vermeiden, versteht sich. Der geistliche Gedanke bleibt: Das Christentum ist kein Ponyhof. Manche mögen uns konservativ nennen, aber das ist in Deutschland ja schon, wer papst- wie lehramtstreuer Katholik ist. Politische Absichten aber hat das Opus Dei nicht. Es gibt einen rein geistlichen Zweck, der Rest ist Privatsache.
Frage: Escrivá hat von Anfang an schwerpunktmäßig mit Akademikern zusammengearbeitet – das sieht ja schon nach katholischer Elitetruppe aus. Zudem bekleiden Opus-Dei-Leute etwa in Spanien wichtige Posten in Justiz und Bildung. Klingt schon irgendwie, als würde das Opus Dei mehr wollen als nur eine nach innen gerichtete geistliche Übung sein.
Nagel: Es ist eine Missinterpretation, Escrivá die Gründung einer Eliteorganisation zu unterstellen. Er hat sehr deutlich gesagt: Ich wende mich zunächst an die Akademiker, weil ich glaube, dass sie nachher in Positionen kommen, wo sie auf mehr Menschen christlich einwirken können. Das waren einfach schon immer gute Multiplikatoren. Diese Gruppe sollte aber nur der Anfang sein. In Deutschland haben wir das noch nicht ganz geschafft, aber in anderen Ländern wie Spanien sind Busfahrer, Kassiererinnen und Bauernfamilien Opus-Dei-Mitglieder.
Frage: Auf der anderen Seite unterstützt das Opus Dei die rechtsextreme Partei Vox in Spanien und hat sich gegen einen progressiven Verfassungsentwurf in Chile eingesetzt. Das ist doch mehr als nur das eigene Leben zu heiligen.
Nagel: Man muss unterscheiden zwischen einzelnen Äußerungen, die Mitglieder tätigen und dem, was die Institution sagt. Und wenn Sie mir nachweisen können, dass irgendeine Regionalleitung, vielleicht sogar die Zentralleitung in Rom irgendwas Politisches gesagt hat, dann müsste das sofort verworfen werden. Aber es gibt keinerlei politische Stellungnahmen des Opus Dei. Denn die Mischung von Kirche und Politik ist immer Gift, das zeigt die Kirchengeschichte. Davon zu unterscheiden sind die Mitglieder. Das sind auch Politiker, Minister und Konzernchefinnen. Aber das ist ihre Sache. Sie treten als Einzelpersonen auf, nicht als Vertreter einer Opus-Dei-Lehre.
Frage: Aber wenn man sich Ihre Broschüre anschaut, ist da nur von zölibatär lebenden und von verheirateten Mitgliedern die Rede – dabei gibt es ja noch viel mehr Lebensformen. Das ist ja schon eine Einschränkung, die man konservativ nennen kann.
Nagel: Das würde ich nicht so sehen: Eine Lebenssituation ohne Partnerin oder Partner kann ein Ruf zum Zölibat sein, eine Liebesbeziehung kann in die Ehe münden. Escrivá spricht nicht umsonst von einem "Leben aus einem Guss": Ein dem Evangelium gemäßes Leben ist eines des Dienstes und der Ordnung. Jesus hat seine gesamten Tage damit verbracht, anderen zu dienen. Den Weg dahin suchen wir auch.
Frage: Aber in die Gesellschaft hineinwirken wollen Sie schon?
Nagel: Natürlich. Aber will das die Kirche nicht auch? Wir verfolgen dieselben Ziele wie die Kirche insgesamt. Jeder Einzelne soll darin unterstützt werden, das Reich Gottes wachsen zu lassen. Wir unterstützen etwa durch Universitäten und Ausbildungsstationen, aber auch durch Entwicklungshilfe.
Frage: Das klingt ja schon im weitesten Sinne nach zumindest gesellschaftspolitischen Zielen.
Nagel: Wir sind keine Gemeinschaft, wir sind sehr institutionsfern. Unser Gründer wollte keine Institution ins Leben rufen. Es geht eigentlich eher um Einzelne, die sich der gleichen Sache verschrieben haben. Wenn ein Mitglied eine Schule gründet, dann ist das keine Opus-Dei-Schule. Es gibt nur ganz wenige Einrichtungen, die bewusst Opus-Dei-Häuser sind – nämlich die, die eine Vereinbarung mit der Prälatur über geistliche Betreuung getroffen haben.
Frage: In jenen herrscht eine feste Hierarchie: Die wichtigen Posten werden von den zölibatär lebenden Numerariern ausgeübt, darunter vor allem von Priestern. Mit Absicht?
Nagel: Wir bewegen uns da in den Strukturen der Kirche – und da steht etwa an der Spitze einer Provinz immer ein Priester. Dass die Numerarier und Numerarierinnen bei uns viele Aufgaben übernehmen, liegt daran, dass sie mehr Zeit haben, weil sie keinen Ehepartner oder eigene Kinder haben. Aber es entscheidet niemand alleine, es gibt immer Beratungen. Priester haben beispielsweise in den einzelnen Häusern kein Stimmrecht. Wir beschränken die Priester auf lokaler Ebene – neben ihrer Beratungsfunktion - auf ihre katechetisch sakramentale Funktion, um gar nicht erst Gedanken des Klerikalismus aufkommen zu lassen. Übrigens haben bei uns auch Frauen dieselben Leitungsverantwortlichkeiten wie Männer.
Frage: Wenn es nach Papst Franziskus geht, soll die Verantwortlichkeit der Laien noch ausgebaut werden. Wie wird sich das Opus Dei durch die neuen Statuten verändern?
Nagel: Das steht noch nicht fest, die Verhandlungen laufen noch. Wir wollen aber auf jeden Fall transparenter werden und mehr nach außen treten. Außerdem sollen Frauen in unserer Außendarstellung noch präsenter werden. Denn die verheiratete Frau ist nicht nur in Deutschland, sondern weltweit der häufigste Typus des Opus-Dei-Mitglieds. Wie in anderen Segmenten der Kirche auch haben wir eine Berufungslücke bei den Zölibatären. Insofern wollen wir die verheirateten mehr einbinden. Das ist in der Geschichte des Opus Dei tatsächlich ein Umdenken. Laien sollen mehr katechetische Aufgaben übernehmen, wir wollen solche Angebote auch mehr hybrid oder ganz online abhalten. Dann wollen wir uns auch um neue geistliche Literatur kümmern. Die Schriften unseres Gründers bleiben natürlich Standard, aber wir stellen uns breiter auf, indem wir etwa englisch-, spanisch- oder italienischsprachige Bücher übersetzen. Mit Blick auf die älteren Numerarier stellen sich auch Fragen der Altersvorsorge, ob es etwa eigene Seniorenstifte braucht.
Frage: Das Opus Dei wächst. Woran liegt das?
Nagel: Wir haben, glaube ich, die Antwort auf zwei Tendenzen gefunden: Einerseits die Individualisierung. Das Evangelium wendet sich an das Individuum, unsere Spiritualität auch. Es geht aber auch um eine Struktur des Alltags in einer säkularen Welt. Wir wollen keine Insel sein, deswegen beschäftigen wir uns in unseren Bildungsangeboten auch immer mit Fragen der Zeit. Das sind sicherlich Wege, die den Menschen von heute etwas geben.