Nachlassende Kirchenbindung seit dem 19. Jahrhundert

Kirchenaustritt – Viele Ursachen, (k)eine Lösung

Veröffentlicht am 30.09.2024 um 00:01 Uhr – Von Michael Kinnen (KNA) – Lesedauer: 

Bonn/München/Paderborn ‐ Seit Jahren erreichen die Kirchenaustrittszahlen Höchststände in beiden großen Kirchen. Bei der Suche nach den Ursachen und den Lösungen haben Kirchenverantwortliche und Soziologen unterschiedliche Ansätze.

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Die Kirchenaustrittszahlen in der katholischen Kirche sind im vergangenen Jahr etwas zurückgegangen. Das war die vermeintlich gute Nachricht. Nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz waren im vergangenen Jahr etwa 400.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten, nach einem bisherigen Höchststand im Jahr 2022 mit 520.000 Austritten. In der Evangelischen Kirche waren es deren Angaben zufolge in beiden Jahren etwa jeweils 380.000 Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Eine Trendwende scheint weit entfernt. Schätzungen des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg aus dem Jahr 2019 gehen davon aus, dass spätestens bis 2060 die Zahl der Kirchenmitglieder zu diesem Stand halbiert sein könnte.

Einen deutlichen Ausschlag nach oben weist die Statistik jeweils um die Jahre 2010, 2014, 2019 und 2022 aus. Manche Forscher vermuten dahinter die Negativschlagzeilen, die die Katholische Kirche in diesen Jahren machte: 2010 wurden viele Fälle sexualisierter Gewalt bekannt, 2014 erreichte der Finanz- und Macht-Skandal um den damaligen Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst seinen Höhepunkt; 2019 wirkte sich die Veröffentlichung der MHG-Missbrauchsstudie mit erneut erschreckend hohen Fall-Zahlen aus, die seitdem einen stetigen Anstieg der Kirchenaustrittszahlen – auch in der evangelischen Kirche – erkennen ließ. Die Glaubwürdigkeitskrise der Kirchen im Zuge der Missbrauchsskandale nimmt zu. Das zeigt sich auch in der Statistik. Bei der Ursachenforschungen gehen die Meinungen aber nicht nur in diese Richtung.

Der Münchener Soziologe Daniel Lois veröffentlichte kürzlich einen Report, in dem er die Entwicklung der vergangenen vier Jahrzehnte in den Blick nimmt. Lois sieht nicht nur einen so genannten Periodeneffekt, also die unmittelbaren Auswirkungen etwa von negativen Schlagzeilen und Ereignissen auf die Austrittszahlen, sondern auch einen Kohorteneffekt. Dieser besagt, dass dort, wo Eltern nicht mehr kirchlich sozialisiert sind, den Glauben auch nicht mehr selbstverständlich an ihre Kinder weitergeben, wie das in früheren Jahren vielleicht der Fall war. Durch eine fehlende kirchliche Bindung fällt es den Kindern dann später leichter, der Kirche ganz den Rücken zu kehren. Wenn sie etwa das erste Gehalt – und damit die erste Kirchensteuerzahlung – erhalten, gehen demnach Menschen, die sich schon lange der Kirche entfremdet haben, verstärkt diesen Schritt. Lois sieht diese schon länger bestehende Grundtendenz als Basis, die durch die Periodeneffekte verstärkt würden. Das führt dann zu hohen Mitgliedsverlusten.

Lücken durch demografische Effekte

Zudem führt die demografische Entwicklung der Boomer-Generation dazu, dass geburtenstarke Jahrgänge auch entsprechende Lücken reißen, wenn sie in großer Zahl austreten oder sterben. Den Angaben zufolge gehört seit dem Jahr 2022 nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland zu einer der beiden ehemals großen Kirchen.

Dieser Trend werde sich weiter fortsetzen, sagt auch der Paderborner Soziologe Marc Breuer im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Säkularisierungstendenz sei allerdings kein Phänomen nur der vergangenen Jahre. Die Forschung könne auch nicht bestätigen, dass etwa die kirchlichen Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils oder die gesellschaftlichen Trends der so genannten "68er Generation" für einen Anstieg der Austritte hauptverantwortlich seien, wie dies gelegentlich kolportiert werde.

Bild: ©picture alliance/Goldmann

Säkularisierungstendenzen sind kein neues Phänomen.

Teilweise gebe es schon seit dem 19. Jahrhundert rückläufige Bindungen an die Kirche. Die Modernisierungsprozesse der Gesellschaft seit der Industrialisierung hätten dazu geführt, dass Religion immer mehr zur Privatsache und zur persönlichen freien Entscheidung und nicht mehr zum gesellschaftlich allein verbindenden Maßstab geworden sei. "In der mittelalterlichen Gesellschaft gab es keine Möglichkeit, ein nicht-isoliertes Leben außerhalb der Kirche zu führen, das ist heute anders", so Breuer. Seit den 1870er Jahren sei ein Kirchenaustritt überhaupt erst rechtlich möglich.

Verzerrungseffekte in den 1950ern

Es gebe zwar vorübergehende Abflachungen der Negativentwicklung in den 1950er Jahren. Diese seien jedoch auch Ausdruck von "Verzerrungseffekten", da hier durch den Zuzug von konfessionell gebundenen Geflüchteten die Zahlen der bisherigen Bevölkerung beeinflusst worden seien. Die Soziologie beobachte Dynamiken und suche Ursachen, erklärt Breuer. Es sei Aufgabe der Pastoral, mit den Befunden umzugehen und sie für ihre Arbeit zu nutzen. Dabei sprechen bisherige Initiativen zur so genannten "Neuevangelisierung" laut Breuer oft nur kleine Segmente an, könnten aber die Breite der Kirchenmitglieder nicht erreichen und somit auch den bisherigen Trend nicht aufhalten.

All das sind keine guten Nachrichten für die Kirchen. Verantwortliche in der Kirche sollten nach Ansicht des katholischen Bonifatiuswerkes beim Thema Kirchenaustritt aber "nicht bei Bedauernsbekundungen stehen bleiben".

Das Hilfswerk, das Katholiken in Regionen unterstützt, in denen sie in der Minderheit sind, wolle Haupt- und Ehrenamtliche in der Kirche dazu ermutigen, das Gespräch mit Austrittswilligen und bereits Ausgetretenen zu suchen, erklärte dessen Generalsekretär Georg Austen kürzlich bei der Vorstellung einer Arbeitshilfe "Drinnen, draußen, (n)irgendwo?: Pastorale Fragen und Antworten rund um den Kirchenaustritt" in Paderborn. Auch wenn die Kirchenaustrittszahlen seit Jahren Höchststände erreichten, sei er überzeugt: "Glaube liegt in der Luft", so Austen, und nennt persönliche Gespräche und Begegnungen als Gewähr.

Bild: ©katholisch.de/ msp

Die Kirche spielt für immer weniger Menschen eine Rolle.

Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland, an der sich auch die katholische Kirche beteiligt hat, zeigt zudem, dass sechs von zehn befragten Katholiken, die aus der Kirchen ausgetreten sind, mit dem Austritt "auch eine Botschaft an die Kirche senden" wollten. Bei den evangelischen Ausgetretenen sind es 38 Prozent.

Das könnte auch ein Potenzial für weitere Kontakte und Gespräche sein, um über die Gründe mehr zu erfahren. Dazu bedürfe es pastoraler Sensibilität, sagt Austen. Auch müssten die kirchlichen Gesprächspartner auf sich selbst achten und für sich prüfen, wie das eigene Kirchen-, Gottes- und Menschenbild aussehe. Auch sie würden in ihrer Mitgliedschaft angefragt und stellten sich diese Fragen auch persönlich. "Warum bin ich in der Kirche?", lautet eine Frage der Selbstreflexion, die die Arbeitshilfe empfiehlt. Und: "Es kann passieren, dass Sie dafür, dass Sie Mitglied der Kirche sind, angegriffen werden. Bewahren Sie Ruhe. Widerstehen Sie dem Impuls, sich zu rechtfertigen. Bleiben sie sachlich. Atmen Sie durch. Verdeutlichen Sie, was das Verhalten des Gegenübers in Ihnen auslöst. Sagen Sie, was Sie sich jetzt wünschen.", heißt es etwa in der Arbeitshilfe.

Ob die Ausgetretenen und Austrittswilligen die Gesprächsinitiative annehmen und ob sie für sie eine Hilfe ist, wenn die Entfremdung schon über Jahre gewachsen ist; ob die Arbeitshilfe - nach einem geflügelten Wort aus dem Journalismus - eher dem Angler als dem Fisch schmeckt und ob schließlich solche Initiativen wie die des Bonifatiuswerks Auswirkungen auf die Austrittszahlen haben können und werden, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Von Michael Kinnen (KNA)