Was wäre, wenn...?

Die Kirche als "alte Oma": Eine Welt ohne Zweites Vatikanum

Veröffentlicht am 09.11.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Dass die Beratungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu Ende gegangen sind, ist Jahrzehnte her. Bis heute ist strittig, ob es ein Erfolg war. Doch eine Kirche ohne Vatikanum wäre in alten Formen erstarrt. Ein Gedankenexperiment.

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Fast 60 Jahre ist es nun bereits her, dass das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) zu Ende ging – und damit die einflussreichste Kirchenversammlung der neueren Kirchengeschichte. 1965, das heißt: Kubakrise, dick schwarz umrandete Brillen und Sonny und Cher stürmen mit "I got you Babe" die Charts. Alles lange vergangen – und doch mahnt Papst Franziskus immer wieder, das Konzil endlich umzusetzen. Aber was wäre, wenn es das Konzil gar nicht gegeben hätte?

Eine der für normale Gläubige sichtbarsten Neuerungen, die das Konzil anstieß, war die Liturgiereform. Anstatt auf Latein wird nun in der Regel in der Landessprache zelebriert, statt mit dem Blick Richtung Osten und Hochaltar wendet sich der Priester der Gemeinde zu. An dieser Frage störten (und stören) sich die meisten Kritiker des Konzils – und spalteten sich zum Teil ab: Bekanntestes Beispiel dafür ist die Piusbruderschaft, die unter Federführung des französischen Erzbischofs Marcel Lefebvre 1975 wegen ihrer Ablehnung unter anderem der Liturgiereform (wie auch der Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zu anderen Konfessionen und Religionen) den kanonischen Status verlor. Für sie war der geänderte Ritus ein Verlust und Verrat an der Tradition. Manche Traditionalisten sagen daher bis heute: Ohne Liturgiereform wäre die Kirche attraktiver.

Der Aussage muss man jedoch mit großen Zweifeln begegnen. "Die Reform der Liturgie fängt nicht mit dem Zweiten Vatikanum an", sagt der Jesuit Andreas Batlogg, der sich für sein Buch "Aus dem Konzil geboren" mit den Folgen des Vatikanums beschäftigt hat. "Romano Guardini hat mit Gottesdiensten in der Landessprache experimentiert, in Maria Laach wurden 'Deutsche Messen' gefeiert – das Konzil hat eher Bewegungen zusammengefasst, die es vorher schon gab, als völlig aus dem Nichts etwas Neues auf die Beine zu stellen." Zudem sei die von Traditionalisten heute so verehrte vorkonziliare Messe eine sterile Veranstaltung gewesen, sagt Batlogg: "Für die meisten Priester war das ein Spießrutenlauf voller Probleme, ein schwieriger Ablauf unverständlich gewordener Rituale in einer Sprache, die mit dem Leben nichts zu tun hatte." Auch schon in den 1960ern war Latein für die allermeisten Menschen ein Buch mit sieben Siegeln – "und seitdem hat die Präsenz des Lateinischen in den Köpfen der Menschen noch einmal abgenommen", so Batlogg. Damals ging man also wegen des Rituals in den Gottesdienst, nicht, weil man daraus etwas mitnahm. Dieser Effekt hätte sich bis heute sicherlich noch verstärkt. "Heute ist noch viel mehr Hintergrundwissen verschwunden. Wenn man sich die Messe ohne Konzil heute vorstellt: Das wäre ein unverständliches Herumgemurmel, bei dem zwischendurch gebimmelt wird. Das würde auf Jugendliche heute wie eine Staatsoper wirken."

Leben in einer Scheinwelt

Ähnlich sieht es auch der Mainzer Dogmatiker Oliver Wintzek: "Traditionalisten wissen, dass sie in einer Scheinwelt leben, um die Herausforderungen einer multioptionalen Gesellschaft auszublenden", sagt er. "Doch mit Nostalgie lässt sich keine kirchliche Identität für Gegenwart oder Zukunft entwickeln. Das ging in den 1960er Jahren so wenig wie heute." Denn, so betont er: Auch damals bröckelte das katholische Milieu bereits. Kirchlichkeit wurde immer weniger selbstverständlich. "Das hätte sich auf Dauer nicht mehr einhegen lassen". Auch die Autorität der Kirche hatte in den 1960er Jahren bereits abgenommen. Als Beispiel führt Wintzek die Enzyklika "Humanae vitae" von Paul VI. an (1968), in der dieser die Empfängnisverhütung verbietet. "Da haben selbst fromme Katholiken gesagt, dass sie sich so etwas nicht bieten lassen und sich eine solche Einmischung in ihr Privatleben verbitten."

Dass zu Beginn der 1960er Jahre keineswegs alles gut war in der Kirche, drückt sich auch in einem der Wünsche aus, die Teilnehmende einer Umfrage vor dem Konzil an die Kirchenversammlung stellten. "Glaubwürdigkeit" stand dabei ganz oben auf der Liste – und wurde auch erreicht. "Niemals ist die Kirche im 20. Jahrhundert so glaubwürdig gewesen wie in diesen drei Jahren Konzil", sagt Batlogg. Gerade Texte wie die Konstitution "Lumen gentium", die das Verhältnis der Kirche zur Welt neu aufsetzte, trugen erheblich dazu bei. Denn was vorher Lehre der Kirche war, ließ sich auch damals schon auf den ersten Blick nicht mehr aufrechterhalten. In der Folge des Ersten Vatikanischen Konzils (1869/70) hatte sich die Kirche als "societas perfecta" beschrieben, die keinen Input von außen braucht und aus sich selbst heraus eine Idealwelt darstellt. Das hat auch in den 1960ern schon niemand mehr geglaubt – noch nicht einmal die Bischöfe. "Wenn ein Johannes XXIII. keine neunzig Tage nach Beginn seines Pontifikats sagt: 'Wir brauchen ein Konzil', wenn dann alle Texte mit satten Zweidrittelmehrheiten beschlossen werden, zum Teil mit über 90 Prozent, sagt das doch aus, dass mit der Kirche etwas nicht in Ordnung war", so Batlogg. Auch wenn es nicht belegbar ist: Ohne diese Änderung hätte die Kirche wahrscheinlich noch viel mehr Vertrauen verloren als sowieso schon.

Bild: ©picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Die Kirche in der Welt: Papst Franziskus beim G7-Gipfel.

Das zeigt sich auch in der Positionierung zur Welt hin. "Erst mit dem Vatikanum hat der Dialog mit der Welt überhaupt begonnen", sagt Batlogg. Der Jesuit verweist auf eine Rede von Papst Franziskus, die dieser Mitte Juni dieses Jahres bei einem Treffen der G7-Staaten in Apulien gehalten hatte. Das Thema: Künstliche Intelligenz. "Das hätte es vorher nicht gegeben." Vielmehr wäre die Kirche eine Wagenburg geworden, vermutet Batlogg.

Das gilt ebenso für die theologische Forschung: Die Kirche stand mit ihrer Haltung zur Wissenschaft in den 1960er Jahren im Abseits. "Nach Veröffentlichung der Enzyklika 'Humani generis', in der Papst Pius XII. im August 1950 einige moderne philosophische Denkansätze ablehnte, verloren bedeutende Theologen wie Yves Congar ihre Lehrstühle – um dann Jahre später Konzilsberater zu werden", so Batlogg.  Belastbare Argumente für den Glauben finden, das gibt es in dieser Form erst seit 1965. Ein frischer Wind kam in die Kirche, so der Jesuit. "Ohne diese Vermittlungsarbeit hätten die Kirche und der Glaube heute keine Relevanz mehr." Die Kirche wäre hemmungslos veraltet, aber mit bunter Theater-Fassade. "Sie wäre eine alte Oma. Die Oma hat man lieb und man besucht sie zu besonderen Feiertagen, sie bekommt aber vom Weltgeschehen nichts mehr mit", beschreibt es Batlogg.

Marginalisierte Sekte oder andere Eruption

So sieht es auch Wintzek: "Ohne das Konzil wäre die Kirche entweder eine marginalisierte Sekte geworden oder es hätte eine andere Form von Eruption gegeben." Denn Fragen der Liturgie, der Gottessuche in der Moderne, der Beteiligung der Gläubigen in Liturgie und Kirche hätte es weiter gegeben. Er verweist auf Fragen an die Kirche, die bis heute aktuell sind: Etwa, wer Priester werden darf oder ob Priester heiraten dürften. Diese Themen hatte das Konzil ausgeklammert. "Trotzdem liegen diese Fragen immer noch auf dem Tisch. So etwas lässt sich nicht wegdiskutieren. Das sind Leerstellen des Konzils."

Gesellschaftliche Megatrends wie Säkularisierung und Individualisierung prägten die Welt in den 1960ern und sie prägen sie heute. Laut Wintzek ergibt sich daraus auch nach dem Konzil eine Aufgabe für die Kirche. "Die Frage nach Gott in der Moderne, das Eingehen auf die existenziellen Fragen der Menschen von heute, steht für die Kirche immer noch aus – ist aber auch ihre größte Chance", so Wintzek. Das ist auch eine Frage danach, wer denn überhaupt für "die" Kirche spricht. Noch immer gibt es nicht in allen Bistümern der Welt Ständige Diakone – die das Konzil möglich gemacht hatte. Dagegen wird in anderen Erdteilen das Glaubensleben fast ausschließlich von Laien getragen.

„Die Frage nach Gott in der Moderne, das Eingehen auf die existenziellen Fragen der Menschen von heute, steht für die Kirche immer noch aus – ist aber auch ihre größte Chance“

—  Zitat: Oliver Wintzek

Noch so ein Unterschied, den das Konzil macht: der Zusammenhalt als Weltkirche. Waren die 800 Teilnehmer des Ersten Vatikanischen Konzils noch alle weiß, diskutierten beim Zweiten Vatikanischen Konzil Menschen aus allen Erdteilen mit. Heute hat sich der Mittelpunkt der katholischen Welt längst verschoben. Katholische Kernländer finden sich nun in Lateinamerika und Afrika. Diesen Wandel hätte eine Kirche ohne das Vatikanum wohl nicht in dieser Form vollzogen, sondern Europa und Nordamerika wären wohl dominant geblieben.

Heute ist die Kirche einmal mehr auf der Suche nach sich selbst. Die einen wollen ein weiteres Konzil, die anderen auf den Stand vor das Konzil zurück. Letztere seien aber eine Minderheit, bemerkt Batlogg. "Diese Protestgruppe darf man nicht überbewerten." Die Auseinandersetzung um die passende Form des Kircheseins in der Gegenwart hält also an. Nicht umsonst betont Papst Franziskus immer wieder, dass die Umsetzung des Konzils noch nicht vollendet ist.

Von Christoph Paul Hartmann