Ein Blick auf die post-christliche Gesellschaft

"Was vom Glauben bleibt": Neues Buch über die Glaubenskrise

Veröffentlicht am 06.11.2024 um 00:01 Uhr – Von Stefan Meetschen (KNA) – Lesedauer: 

Berlin ‐ Säkulare Gesellschaft, leere Kirchen, verschwundenes Christentum? Der Dramaturgie-Fachmann Bernd Stegemann zeigt, warum der religiöse Ist-Zustand etwas komplizierter ist – und gefährlich für die Demokratie.

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Lange glaubte die säkulare Gesellschaft, mit dem Verlust des Glaubens den Fanatismus hinter sich gelassen zu haben – doch die Säkularisation hat neue Ungeheuer zur Welt gebracht: Das ist das Thema, das den Dramaturgie-Experten Bernd Stegemann in seinem aktuellen Buch "Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse" (Verlag Klett-Cotta) umtreibt.

Dabei sieht der katholisch sozialisierte Autor, der sich selbst eine "Glaubensuntauglichkeit" attestiert, als Grundproblem, dass schon der religiöse Glaube nicht per se eine gute Wirkung hat. Er kann den Menschen zur Demut, aber auch zum Hochmut führen. Sein Pendant, der säkulare Glaube, garantiert trotz aller Vorzüge der Aufklärung aber auch kein Leben ohne Hybris oder Selbstüberschätzung. "Der säkulare Glaube führt zur Esoterik oder zum Hochmut der absoluten Gewissheit in weltlichen Belangen", folgert Stegemann.

Was aus dieser "Mischung von Privatreligion und innerweltlichem Bescheidwissen" als Konsequenz droht, ist nach Stegemanns Einschätzung "gnostische Politik" und die "Gefühlslage einer drohenden atheistischen Apokalypse". Politiker und Aktivisten würden zu "falschen Propheten", die gegen Personen kämpfen und für Argumente nicht mehr empfänglich sind. 

Das ganze Polit-Spektrum ist betroffen 

Stegemann verortet diese post-christliche Entwicklung auf dem gesamten gesellschaftspolitischen Spektrum: "Die Inbrunst der falschen Propheten, die als Abtreibungsgegner, Klimaaktivisten, Corona-Leugner und identitätspolitische Aktivisten von ihrem Auftrag beseelt sind, ist ebenso Ausdruck der gnostischen Politik wie die absolute Forderung, die im verletzten Gefühl begründet ist." Denn: Wo Gefühle und Opfer-Ansprüche Überhand nehmen, herrschen keine guten Zeiten für die Demokratie.

Bild: ©Adobe-Stock/ Peter Heckmeier

"Wer seine Predigt mit der Floskel begründet, was wohl Jesus heute getan hätte, der feiert keinen Gottesdienst, sondern will seine politische Meinung mit der höchsten Autorität ausstatten", schreibt Stegemann in seinem Buch.

Angelehnt an Nietzsche spricht Stegemann von "Ressentiment-Bewegungen", welche davon angetrieben sind, die Welt zu verbessern; statt von christlicher Vergebung und Nächstenliebe werden diese säkularen Bewegungen aber vom Rachegedanken geleitet. Jeder Helfer sein eigener eifersüchtiger Gott. "Überall entstehen neue Wir-Gruppen, die sich in Feindschaft zu anderen formieren." Im Zentrum der demokratischen Staaten können diese neuen Ressentiment-Bewegungen zu einem echten Problem werden, weil Demokratie vom Austausch der Argumente lebt, nicht von Feindbildern. 

Die Kirche als "Ruine" 

Die Kirche in Deutschland nimmt Stegemann in diesem Rahmen mit "sorgender Anteilnahme" wahr, ist sie doch "zur Ruine einer zweitausendjährigen Instanz" geworden. Der Verdacht liegt nah, dass daran auch eine Säkularisierungstendenz in der Kirche selbst schuld sein könnte. Das Ergebnis: Moralische Anmaßung. "Wer seine Predigt mit der Floskel begründet, was wohl Jesus heute getan hätte, der feiert keinen Gottesdienst, sondern will seine politische Meinung mit der höchsten Autorität ausstatten."

Doch Stegemanns Kritik geht noch weiter: "Die Klagen der christlichen Amtskirchen über den Mitgliederschwund zeigen, dass sie die Glaubenskrise nicht religiös, sondern nur säkular deuten können." Die wahre Krise zeige sich also darin, dass die Kirche um sich selbst als Institution besorgt sei, weniger um die Menschen, die sich von ihr entfernt hätten. Wie lässt sich das ändern? Obwohl Stegemann seine Betrachtungen mit Zitaten und Gedanken renommierter Denker wie Émile Durkheim, Charles Taylor, Jürgen Habermas oder Paul Latour abfedert, hält er sich mit Empfehlungen zurück. Seine Sympathie gilt altmodisch anmutenden Tugenden: der christlichen Demut und Nächstenliebe, der Übersetzung von Religion in eine Transzendenz-offene Sprache.

Auch dem Konzept der "Glaubensschwachheit" nach Gianni Vattimo kann Stegemann viel abgewinnen. "Die Antwort des Glaubens, soweit sie überhaupt noch möglich ist, kann nicht in der Erinnerung an die Stärken des Glaubens bestehen, die heute als Glaubenshärten auftreten, sondern sie erlernt die Hoffnung, die das Geschenk bedeutet, das Gott uns mit seiner Schwäche gemacht hat." Viel ist das nicht, was demnach vom Glauben bleibt. Dennoch ist das Buch "Was vom Glauben bleibt" eine anregende Betrachtung, die einen schonungslos unbefangenen Blick auf die post-christliche Gesellschaft, die Kirche und postmoderne Haltungen in der Politik wirft.

Von Stefan Meetschen (KNA)