Wolfsburger Pfarrer: Die Krise bei VW trifft auf erschöpfte Menschen
Volkswagen, Deutschlands größter Autobauer, steckt in einer schweren Krise. Seit Wochen kommen aus der Konzernzentrale in Wolfsburg dramatisch klingende Nachrichten, sogar von möglichen Werksschließungen war zuletzt die Rede. Welche Auswirkungen hat die Krise bei VW auf die Mitarbeitenden des Konzerns und die Menschen in Wolfsburg? Darüber spricht im Interview mit katholisch.de der Wolfsburger Pfarrer Thomas Hoffmann. Er hat in den vergangenen Wochen viele seelsorgliche Gespräche geführt und sich ein eigenes Bild von der Lage gemacht.
Frage: Pfarrer Hoffmann, Sie sind Pfarrer in Wolfsburg und damit mindestens geografisch nah dran am kriselnden Volkswagen-Konzern. Wie haben Sie die Lage des Konzerns und die bundesweite Berichterstattung dazu in den vergangenen Wochen wahrgenommen?
Hoffmann: Eine Krise geht oft mit einer undurchsichtigen Kommunikation einher. So ist es auch bei uns. Wer weiß Genaues? Wer hält Informationen zurück? Welche unveröffentlichten Pläne liegen noch in der Schublade? Ist die Lage besser oder schlechter als es in der Zeitung steht? Welche Taktik oder Strategie steht hinter der einen oder anderen Aussage? Eine so unübersichtliche Gemengelage wie derzeit bei VW lässt die Gedanken kreisen – und das macht die Situation nicht klarer, sondern führt zu Verunsicherungen und Gerüchten. Bei der bundesweiten Berichterstattung wiederum habe ich manchmal den Eindruck, dass dabei auch neidbasierte Häme im Spiel ist und den "reichen Wolfsburgern" aufs Brot geschmiert werden soll, was sie in den vergangenen Jahren angeblich alles falsch gemacht haben.
Frage: Sie sind Priester und kein Ingenieur oder gar Automobilmanager. Trotzdem auch an Sie die viel diskutierte Frage: Was ist bei VW in den vergangenen Jahren schiefgelaufen?
Hoffmann: Als Pfarrer tue ich mich schwer, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Schließlich haben wir als katholische Kirche in der Vergangenheit selbst große Fehler gemacht, weshalb auch wir oft nicht weiterwissen. Als Mitglied einer dermaßen angeschlagenen Organisation kann und will ich mit Blick auf VW deshalb nur vorsichtige Vermutungen äußern. Ein großes Problem war ganz sicher der Dieselskandal, der meiner Meinung nach an Arroganz und Dummheit nicht zu überbieten war. Auch drängt sich die Frage auf, ob die Zeichen der Zeit im Konzern immer erkannt oder doch eher verschlafen wurden. Dass VW bislang kein günstiges Elektroauto im Angebot hat, lässt mich eher Letzteres vermuten.
„Ich nehme ein Stimmungsgemisch wahr, das ich mit folgenden Worten beschreiben würde: angespannt, latent aggressiv, fassungslos, bedrückt.“
Frage: Was würden Sie – bei aller Zurückhaltung – dem Konzern raten?
Hoffmann: Ein Stück weit gilt für VW sicher, was auch für jeden Menschen gilt: Man sollte sich immer wieder selbst hinterfragen, sich nicht überschätzen und aus eigenen Fehlern lernen. Zudem muss der Konzern natürlich auch die eigene Finanzsituation fest im Blick behalten, notwendige Reformen einleiten, möglicherweise alte Zöpfe abschneiden, alle beteiligten Menschen ins Boot holen und klar kommunizieren – das sagt mir zumindest mein gesunder Menschenverstand. Aber natürlich wissen die Menschen bei VW das noch viel besser als ich. Klar ist: VW ist wie ein Riesendampfer, der schwer zu steuern, zu bremsen und auf neuen Kurs zu bringen ist. Ich hoffe sehr, dass dies dem Vorstand und allen Verantwortlichen bald gelingt.
Frage: Wie stellt sich in Ihrer Gemeinde und auch in der Stadtgesellschaft die aktuelle Stimmung mit Blick auf den Konzern dar? Gibt es Sorgen vor der Zukunft? Das Wohl der Stadt und ihrer Bewohner hängt schließlich ganz maßgeblich vom Wohl des Konzerns ab ...
Hoffmann: Ich nehme ein Stimmungsgemisch wahr, das ich mit folgenden Worten beschreiben würde: angespannt, latent aggressiv, fassungslos, bedrückt. Das Narrativ von der großen VW-Familie, bei der Vorstand, Management, Mitarbeitende und Aktionäre zusammenstehen, gemeinsam an einer großen Sache arbeiten und dabei gleichermaßen profitieren, hat sich als nette Geschichte für gute Zeiten erwiesen, an die in schweren Zeiten niemand mehr glauben kann.
Frage: Haben Sie in den vergangenen Wochen seelsorgliche Gespräche mit Mitarbeitenden des Konzerns oder Angehörigen von Mitarbeitenden geführt? Wenn ja, was haben Sie da zu hören bekommen?
Hoffmann: Alle Mitglieder unseres Pastoralteams haben entsprechende Gespräche mit den Menschen unserer Stadt geführt. Um die aktuelle Situation zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass die VW-Krise sehr häufig nicht Menschen betrifft, die zuvor ein unkompliziertes und leichtes Leben hatten. Bereits vor den Entwicklungen der vergangenen Wochen waren insbesondere viele junge Familien am Rande ihrer Kräfte; ihr Alltag war schon zuvor oft von Überforderung, Anspannung und Sorgen geprägt. Die jetzige Krise bei VW trifft vielfach also auf sehr erschöpfte Menschen. Und obendrauf kommen nun ganz konkrete Existenzängste: In vielen Familien stellen sich jetzt bange Fragen wie "Ist mein Arbeitsplatz noch sicher?", "Kann ich den Kredit für mein Eigenheim weiter bedienen?", "Was mache ich, wenn mein Lebensentwurf ins Wanken gerät?", "Was können wir uns noch leisten?". Oder auch eine ganz praktische Frage wie "Kann ich weiterhin mit den vereinbarten Unterhaltszahlungen rechnen?".
Frage: Bei früheren Krisen hörte man immer mal wieder den Spruch "Wenn Volkswagen hustet, hat Wolfsburg – oder sogar ganz Niedersachsen – die Grippe". Ist an diesem Spruch nach Ihrer Einschätzung also etwas Wahres dran oder ist das doch eher Folklore?
Hoffmann: Da ist ganz klar etwas Wahres dran. Wolfsburg ist VW und Niedersachsen ist ein Autoland. Viele Arbeitsplätze bei VW und den vielen in der aktuellen Diskussion gar nicht beachteten Zulieferern haben den Menschen, den Kommunen, dem Land und auch den Kirchen über viele Jahre hinweg gute Einnahmen beschert. Wenn es in dieser Hinsicht nun grundlegende Veränderungen geben sollte, hätte dies deutliche Auswirkungen auch in vielen anderen Bereichen.
„Oft ist eine Krise die verschlossene Tür zu neuen Perspektiven, neuen Chancen, neuen Menschen, neuem Leben. Krisenbewältigung heißt, an dieser Tür zu rütteln und sie dann auch zu öffnen.“
Frage: Insbesondere die Mitarbeitenden von Volkswagen haben jahrelang von hohen Gehältern und einer hohen sozialen Absicherung profitiert. Und auch die Kommunen und das Land – Sie haben es angesprochen – haben lange profitiert. Allein in Wolfsburg trug VW in manchen Jahren fast zur Hälfte aller Steuereinnahmen der Stadt bei. Diese rosigen Zeiten scheinen nun – bis auf Weiteres oder sogar für immer – vorbei zu sein. Was könnte da auf die Stadt und die Menschen in Wolfsburg zukommen?
Hoffmann: Ich bin natürlich kein Prophet, deshalb kann auch ich nicht sagen, was alles auf uns zukommen wird. Aber ganz sicher werden wir in den nächsten Jahren nicht die Hände in den Schoß legen und den vergangenen Zeiten hinterherjammern, sondern mit Kreativität, Mut und Gemeinsinn das Kommende gestalten. Das jedenfalls ist meine Hoffnung und meine Überzeugung.
Frage: Volkswagen – dieses Gefühl haben derzeit viele Menschen – steht mit seinen Problemen sinnbildlich für ganz Deutschland; viele Menschen sehen das Land dem Niedergang entgegentaumeln. Teilen Sie diese Sichtweise oder haben Sie die Hoffnung, dass am Ende doch alles nicht so schlimm kommen wird?
Hoffmann: Als Seelsorger habe ich viele menschliche Krisen begleiten dürfen. Krisen können lebensgefährlich sein. Oft aber ist eine Krise die verschlossene Tür zu neuen Perspektiven, neuen Chancen, neuen Menschen, neuem Leben. Krisenbewältigung heißt, an dieser Tür zu rütteln und sie dann auch zu öffnen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, alle Kraft zusammenzunehmen und loszugehen. Warum sollte uns das als Land – pragmatisch, nüchtern, anpackend, realistisch, optimistisch, einfallsreich, solidarisch und gemeinwohlorientiert – nicht auch gelingen?