Papst Franziskus fordert kritischen Blick auf Kirchengeschichte
In eindringlichen Worten hat Papst Franziskus um eine sensible und realistische Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte geworben. In einem am Donnerstag vom Vatikan veröffentlichten Brief schreibt er: "Die Geschichte der Kirche hilft uns, einen Blick auf die wirkliche Kirche zu werfen, um jene Kirche lieben zu können, die tatsächlich existiert und die aus ihren Fehlern und Niederlagen gelernt hat und weiter lernt." Ihr Studium schütze vor einer "allzu engelsgleichen Vorstellung von der Kirche, von einer Kirche, die nicht real ist, weil sie keine Flecken und Falten hat".
In einer Zeit, in der die Tendenz immer stärker werde, auf Erinnerung zu verzichten oder eine auf die Bedürfnisse der herrschenden Ideologien zugeschnittene Erinnerung zu konstruieren, sei eine neue, größere historische Sensibilität dringend erforderlich, so der Papst weiter. Dies gelte für Priesteramtskandidaten, junge Theologiestudenten sowie alle anderen.
Falsche, künstliche Erinnerungen
In dem acht Seiten umfassenden Brief kritisiert Franziskus eine aktuelle Flut von falschen, künstlichen und unwahren Erinnerungen bei gleichzeitigem Mangel an Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft "und auch in unseren christlichen Gemeinschaften". Darum seien die Rolle der Historiker und das Wissen um ihre Erkenntnisse heute entscheidend und könnten ein Gegenmittel gegen Hass sein, der auf Unwissenheit und Vorurteilen beruhe.
Bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Institution Kirche spart der Papst nicht mit Selbstkritik: Im Laufe der Jahrhunderte habe sich immer auch Untreue gegen den Geist Gottes gefunden, bei Klerikern wie Laien. "Auch in unserer Zeit weiß die Kirche, wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist." Franziskus mahnt, dieses Versagen nicht zu vergessen, sondern es unerbittlich zu bekämpfen, damit es der Verbreitung des Evangeliums nicht schade.
Der Papst erinnert an historische Schrecken: "Die Shoah darf nicht vergessen werden. Die Atombombenangriffe von Hiroshima und Nagasaki dürfen nicht vergessen werden. Wir dürfen auch nicht die Verfolgungen, den Sklavenhandel und die ethnischen Säuberungen vergessen, die in verschiedenen Ländern stattfanden und noch stattfinden, und so viele andere historische Ereignisse, für die wir uns schämen, Menschen zu sein." Die Kirche müsse wirksame Wege der Versöhnung und des sozialen Friedens aufzeigen. (KNA)