Historikerin Eva Marie Lehner über uneheliche Kinder und unehrenhafte Berufe

Was verraten Kirchenbücher über das Leben in vergangenen Zeiten?

Veröffentlicht am 09.12.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Bonn ‐ Eva Marie Lehner forscht mit Kirchenbüchern aus der Frühen Neuzeit – und weiß daher, dass es auch damals keine "heile Welt" gab. Mit katholisch.de sprach sie über plurale Beziehungsformen und Pfarrer, die spannende Details über ihre Schäfchen notierten.

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Taufen, Trauungen, Beerdigungen – das sind die Klassiker in Kirchenbüchern, die seit der Frühen Neuzeit, also in etwa den Jahrhunderten zwischen 1500 und 1800, geführt werden. Doch was verraten sie uns über vergangene Zeiten? Die Historikerin Eva Marie Lehner beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Forschung an und mit Kirchenbüchern. Im Interview spricht sie über deren besonderen Wert und eine Epoche im Umbruch.

Frage: Frau Lehner, woher kam im 16. Jahrhundert der Impuls, Kirchenbücher zu führen?

Lehner: Es gab im Christentum auch vorher schon Aufzeichnungen über Taufen, Beerdigungen und Ehen – aber noch nicht systematisch und flächendeckend. Doch mit der Reformation ändert sich da etwas: Nun gibt es zwei große Kirchen und jede von ihnen hat das Bedürfnis, ihre eigenen Anhänger festzuschreiben. Es geht da auch um eine Selbstvergewisserung. Das gilt in dieser Zeit nicht nur für die Kirche: In Städten und auf Höfen wird auf einmal viel mehr aufgeschrieben, Pflanzenarten und Ländergrenzen werden festgehalten und kategorisiert. Es ist ein schreibwütiges Jahrhundert. Es wird nun auch in der Kirche mehr kontrolliert, dass das auch geschieht. So entsteht eine einheitliche Bürokratie. Zudem wird mit der Reformation die Ehe immer wichtiger. Sie wird mehr und mehr der wichtigste Stand vor Gott und die entscheidende Beziehungsform. Bei den Protestanten fällt der Zölibat weg, also rückt die Ehe in der Bedeutung nach. Da die Protestanten die Ehe nicht als Sakrament begreifen, betonen die Katholiken das umso mehr – beide messen der Ehe also aus unterschiedlichen Gründen mehr Gewicht zu. Es ist allerdings auch nicht immer klar, wann eine Ehe beginnt: mit der Zustimmung der Eltern, der kirchlichen Feier, dem ersten Geschlechtsverkehr? Dadurch entsteht ein gewachsenes Bedürfnis, diese Eheschließungen aufzuschreiben. Denn mit der Eintragung ins Kirchenbuch gilt eine Ehe als verbindlich geschlossen.

Frage: Was verraten uns diese Kirchenbücher heute?

Lehner: Da gibt es zunächst einen Wert für die Genealogie. Menschen können nach Vorfahren suchen und so einen Teil ihrer Identität konstruieren. Das tun keineswegs nur ältere Generationen. Auch junge Menschen interessieren sich dafür. Für meine Forschung interessant waren auch andere Punkte: Wir haben hier ein Verwaltungsschrifttum aus Tabellen mit Namen, Daten, aber auch Notizen. In dieser Zeit ist das die einzige Form, in der ein Großteil der Menschen aufgezeichnet wurden. In einer ständisch organisierten Gesellschaft, wo in der Regel nur Aufzeichnungen über die Herrschenden gemacht wurden, ist das eine spannende Quelle. Es lässt sich viel in den Notizen finden, die allerdings je nach Ort und Pfarrer unterschiedlich geführt wurden. Im städtischen Kontext, wo es auch damals schon anonymer zuging, haben wir oft nur die nackten Zahlen. Aber auf dem Land, wo der Pfarrer seine Gemeindemitglieder kannte, stehen manchmal auch spannende Sachen in den Notizen, etwa kleine biografische Abrisse. Das nimmt mit der Zeit ab, es gibt also eine Entwicklung hin zur Standardisierung. Diese Aufzeichnungen erzählen aber auch etwas über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert. Es sterben viel mehr Leute als sonst, durch Kriege und Epidemien. Da gibt es Fluchtbewegungen – und manche Kirchengemeinden kommen auch zeitweise zum Erliegen. Manchmal gibt es dann von einem Menschen nichts mehr außer einem Kirchenbucheintrag. Damit bekommt der einen besonderen Wert. Diese Einträge sind etwa bei Taufen auch ein Zeichen für Seelsorge, also für einen Platz der Kirche im Familienleben und in der Gemeinschaft.

Bild: ©Privat

Die Historikerin Eva Marie Lehner beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Forschung an und mit Kirchenbüchern.

Frage: Lange hielt sich das Klischee, die Bauern der Vergangenheit wären alle brav und verheiratet gewesen. In den Kirchenbüchern liest man aber von vorehelichen Kindern, Kindern aus anderen Beziehungen, Patchworkfamilien und so weiter. War das damals völlig normal?

Lehner: Völlig normal nicht. Aber wir haben ein falsches Bild der Vergangenheit: Es gab generell eine höhere Sterblichkeit – bei Kindern, aber nicht nur dort. Dass bei einer Ehe einer der Partner bedeutend früher als der andere starb, war also nicht unwahrscheinlich – und damit eine Wiederheirat. Außerdem war die Ehe auch ein Privileg: Dafür brauchte man eine Genehmigung und einen festen Wohnsitz. Den hatten nicht alle. Gerade umherziehende Tagelöhner konnten oft nicht heiraten. Es gibt eine große Pluralität der Beziehungs- und Lebensformen. Die angebliche "heile Welt" mit statischen, für alle verbindlichen Beziehungsformen ist also eine spätere Projektion auf diese Zeit.

Frage: Dazu gehört auch, dass vorehelicher Sex und Vergewaltigungen nicht voneinander unterschieden wurden.

Lehner: So ist es. Denn das Kirchenbuch denkt nur von der Ehelichkeit her. Es ging also um Kinder, die unehelich geboren wurden. Der Kontext war nicht von Interesse. Das ist für uns heute tatsächlich ein blinder Fleck.

Frage: Wir haben schon über das kirchliche Alltagsleben gesprochen. Was waren damals bestimmende Faktoren?

Lehner: Da gibt es einmal die Kirchendiener, Diakone und Pfarrer, die diese Eintragungen vornehmen und zu deren Arbeitsalltag die Kirchenbücher gehörten. Wie bekommen die ihr Geld, wo werden sie eingesetzt, wer übernimmt welche Aufgaben und werden sie kontrolliert? Sind sie pflichtbewusst oder gab es Beschwerden über einen "liederlichen" Lebensstil und Trunkenheit. Konfessionelle Unterschiede spielen bei diesen Fragen kaum eine Rolle – in der Kirchenbuchführung gibt es stilistisch keine Unterschiede. Nur vielleicht, dass katholische Pfarrer häufiger in Latein schrieben als evangelische und es in katholischen Kirchenbüchern keine Einträge zu Scheidungen gibt, lediglich die Trennung von Tisch und Bett. Da ist auf der anderen Seite der religiöse Alltag, den die Kirchenbücher zeigen. Wer darf ein Kind taufen? Und wer bringt es dafür in die Kirche, denn die Mutter liegt ja noch im Kindbett? Das ist in der Regel der Vater. Die Kirchenbücher liefern dazu detaillierte Einblicke.

Die Seite eines Kirchenbuchs
Bild: ©data.matricula-online.eu/CC BY-NC-ND 2.0

Zwischen katholischen und evangelischen Kirchenbüchern gibt es einige Überschneidungen.

Frage: Gibt es denn sonst Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Kirchenbüchern?

Lehner: Die evangelischen haben bei Ehen noch etwas häufiger nicht-eheliche Beziehungen aufgeführt. Die gab es sicher bei den Katholiken auch, aber wurden nicht immer genannt. Man kann das so interpretieren, dass sie totgeschwiegen wurden, damit es in die Lehre passt. Vielleicht wurden sie jedoch auch schlicht an einem anderen Ort verhandelt. In protestantischen Gebieten gibt es auch Ehegerichte, denen der Pfarrer vorstehen konnte, da spielt also das Beziehungsleben noch eine andere Rolle an einem anderen Ort. Allerdings gibt es auch Kirchenbücher von Pfarreien, die die Konfession wechseln und dann einfach von anderen Leuten mit anderen Sakramenten weitergeführt wurden. Es gab also wohl auch eine Wertschätzung dieser Daten. Man könnte zudem sagen, dass so ein Konfessionswechsel für die Menschen keine große Bedeutung hatte – allein schon, weil sie sich ihre Konfession nie aussuchen durften, sondern sich am Landesherrn orientieren mussten.

Frage: In den Kirchenbüchern wird oft ein großer Unterschied zwischen Ansässigen und Fremden gemacht. Warum?

Lehner: Die Frühe Neuzeit war eine Anwesenheitsgesellschaft. Es ging darum, dass man sich kannte und füreinander bürgte. Die Ortsgemeinschaft hatte also eine sehr große Bedeutung, auch wenn es um Gerüchte ging. Der persönliche Leumund und die Ehre der Familie waren enorm wichtig. Fremde waren in diesem Zusammenhang ein "Problem", weil man über sie nichts wusste. Das konnte man auch nicht ändern, weil es keine übergreifende Bürokratie gab. Es konnte also sein, dass ein Fremder schon verheiratet oder ein Verbrecher war. Vielleicht hatte dieser jemand aber auch einen unehrenhaften Beruf wie Totengräber oder Henker. Fremde waren also ein Unsicherheitsfaktor. Auch religiös, denn es gab nicht nur zwei große Kirchen, sondern auch eine jüdische Minderheit.

Frage: Wie kommen Juden in christliche Kirchenbücher?

Lehner: Wir sprechen hier im 16. und 17. Jahrhundert von einem vorstatistischen Zeitalter. Das Interesse für erhobene Daten beginnt erst Stück für Stück. Mit der Zeit wächst dieses Interesse immer mehr: Dann gibt es zum Teil Häuserverzeichnisse und einen Einwohnerüberblick. Da werden dann auch zum Beispiel jüdische Gemeinden und ihre Mitglieder erfasst. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Daten systematisch erfasst und vereinheitlicht, die weltliche Obrigkeit hat Interesse an den Daten, etwa mit Blick auf Einzüge für das Militär, das Schulwesen oder frühe Versicherungen. Die Kirchenbücher sind also der Grundstock für alle Statistik bei uns – und können für uns heute ein Blick in die Vergangenheit sein.

Von Christoph Paul Hartmann