SkF-Vorständin zur zunehmenden Gewalt gegen Frauen in Deutschland

"Gewalt zieht sich durch alle Schichten und kann jede Frau betreffen"

Veröffentlicht am 12.12.2024 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 7 MINUTEN

Dortmund ‐ Laut aktuellen Zahlen hat die Gewalt gegen Frauen in Deutschland zuletzt dramatisch zugenommen. Im Interview spricht die Vorständin des Sozialdienstes katholischer Frauen, Yvonne Fritz, über Ursachen und Formen der Gewalt, Hilfen für Betroffene und ihre Erwartungen an Politik und Gesellschaft.

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Mitte November hat die Bundesregierung das Lagebild "Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023" veröffentlicht. Die Analyse, die in dieser Form erstmals erschienen ist, zeigt eine deutliche Zunahme von Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Interview mit katholisch.de äußert sich Yvonne Fritz aus dem Vorstand des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) zu dieser Entwicklung. Außerdem spricht sie über Ursachen und Formen der Gewalt gegen Frauen, Hilfsangebote für Betroffene und ihre Erwartungen an Politik und Gesellschaft.

Frage: Frau Fritz, bald ist Weihnachten, das gerne auch als "Fest der Liebe" bezeichnet wird. Ist das Fest trotzdem eine Gefahr für Frauen?

Fritz: Wenn Sie die Frage mit Blick auf das Problem häuslicher Gewalt gegen Frauen stellen, muss man das sicher so sagen. Wir wissen, dass Frauen vor allem zu Hause Gefahr laufen, Opfer von Gewalt zu werden. Und gerade an Feiertagen wie Weihnachten oder auch Ostern, an denen viele Familien noch mehr als im Alltag Zeit miteinander verbringen und oftmals auch Alkohol eine Rolle spielt, ist die Gefahr gewalttätiger Übergriffe leider besonders groß.

Frage: Ähnliches wurde auch während der Corona-Pandemie berichtet. In den Lockdown-Phasen waren damals viele Menschen zu Hause "eingesperrt". Das soll gewalttätige Konflikte befördert haben, denen viele Frauen schutzlos ausgeliefert waren ...

Fritz: Genau. Die Beratungsstellen unserer Ortsvereine haben es damals mit vielen solcher Fälle zu tun gehabt. Erschreckend ist allerdings, dass die Zahl häuslicher Gewalttaten seither entgegen den Erwartungen nicht wieder zurückgegangen ist. Der sogenannte "Corona-Effekt" einer Zunahme von Gewalttaten in Paarbeziehungen und Familien hat sich leider dauerhaft verstetigt, wie zuletzt auch aktuelle Zahlen der Bundesregierung gezeigt haben.

Frage: Woran liegt das Ihrer Erkenntnis nach?

Fritz: Da dürften mehrere Gründe eine Rolle spielen. Ein Faktor ist sicher die angespannte "Großwetterlage". Gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich leben wir spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in höchst unsicheren Zeiten, die bei vielen Menschen Ängste auslösen und zu zwischenmenschlichen Spannungen führen können, die mitunter in Gewalt münden. Noch relevanter dürften aber die in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreiteten patriarchalen und misogynen Denkmuster sein. Eine erschreckend hohe Zahl an Männern betrachtet Frauen immer noch als ihren Besitz, den sie dominieren und kontrollieren dürfen.

„Häusliche Gewalt zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und kann somit auch jede Frau betreffen.“

—  Zitat: Yvonne Fritz

Frage: Gibt es Frauen, die besonders gefährdet sind, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden? Kommt Gewalt – plakativ gefragt – eher in der Arbeiterwohnung als in der Arztvilla vor?

Fritz: Das ist ein Vorurteil, das längst widerlegt ist. Häusliche Gewalt zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und kann somit auch jede Frau betreffen.

Frage: Und welche Rolle spielen die Herkunft oder die Religion eines gewalttätigen Mannes?

Fritz: Darüber gibt es bislang keine gesicherten Daten. Klar ist nur: Der vor allem in rechten Kreisen geäußerte Vorwurf, dass die Geringschätzung von Frauen und der Hang zu Gewalt gegen Frauen vor allem ein Problem von Migranten – und hier vor allem von Muslimen – sei, ist durch keine Statistik belegt.

Frage: In den Frauenhäusern hat die Zahl von Ausländerinnen und Frauen mit Migrationshintergrund in den vergangenen Jahren allerdings erheblich zugenommen ...

Fritz: Das stimmt – ist aber kein Beweis dafür, dass Männer mit Migrationshintergrund überproportional häufig gewalttätig werden. Seit 2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Es ist nicht überraschend, dass sich diese Entwicklung mit einem gewissen zeitlichen Verzug auch in den Frauenhäusern widerspiegelt. Ausländische Männer verhalten sich gegenüber Frauen nicht besser und nicht schlechter als deutsche Männer.

Frage: Neben körperlicher Gewalt hat in den vergangenen Jahren auch die digitale Gewalt gegen Frauen stark zugenommen. Cybermobbing, Hate Speech oder Sexting sind häufige Schlagwörter in diesem Zusammenhang. Wie blicken Sie auf diese Problematik?

Fritz: Mit großer Sorge, denn in der Tat sehen wir seit einiger Zeit einen massiven Anstieg digitaler Gewalt. So segensreich Handys im Alltag sein können – für Frauen, die bedroht oder verfolgt werden, können sie zu einer echten Gefahr werden. Über Aktivitäten in den sozialen Netzwerken oder die Ortungsfunktion des Smartphones können gewalttätige Lebensgefährten oder Ehemänner ihre Frauen engmaschig überwachen und fast jederzeit deren Standort ermitteln. Das kann lebensgefährlich werden! Wir empfehlen Frauen, die etwa in Frauenhäusern Schutz suchen, daher immer, in ihrem Handy die Ortungsdienste auszuschalten oder sich sogar eine neue SIM-Karte anzuschaffen. Ein neuerer Trend, den wir beobachten, ist zudem der Missbrauch von Smart-Home-Funktionen, bei denen ein Täter mit Hilfe seines Smartphones zum Beispiel am helllichten Tag die Rollläden runterlässt oder nachts das Licht anmacht. Damit soll den Opfern Angst eingejagt und Macht demonstriert werden.

Bild: ©Sozialdienst katholischer Frauen

Yvonne Fritz ist Mitglied im Vorstand des SkF-Gesamtvereins, des überdiözesanen Dachverbands des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF).

Frage: Wie stehen Sie als SkF betroffenen Frauen zur Seite?

Fritz: Hier muss man unterscheiden zwischen unserem politischen Auftrag einerseits und den konkreten Hilfen für Frauen andererseits. Als zentrale Fachstelle für das Arbeitsfeld Häusliche Gewalt/Gewaltschutz im Deutschen Caritasverband vertreten wir als SkF-Gesamtverein gemeinsam mit dem Caritasverband die fachpolitischen Interessen der katholischen Träger auf Bundesebene gegenüber Politik und Behörden. Außerdem engagieren wir uns in verschiedenen Bündnissen und Kooperationen, um auf möglichst vielen Ebenen für das Problem von Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren.

Frage: Und die konkreten Hilfen für Frauen?

Fritz: Die findet in den rund 120 SkF-Ortsvereinen statt. Die Ortsvereine betreiben zum Beispiel Bratungsstellen und Frauenhäuser, wodurch sie betroffenen Frauen ganz konkret helfen können.

Frage: Frauenhäuser sind oftmals der erste Zufluchtsort für Frauen, die Gewalt erfahren haben. Wie stellt sich derzeit die Lage in den Häusern des SkF dar?

Fritz: Die Lage ist angespannt. Obwohl allein wir als Träger gemeinsam mit der Caritas mehr als 1.800 Plätze in Frauenhäusern anbieten können, gibt es laut Schätzungen derzeit bundesweit rund 14.000 Plätze zu wenig. Das ist ein Riesenproblem! Schuld daran ist auch die desaströse Lage auf dem Wohnungsmarkt: Viele Frauen, die die Frauenhäuser wieder verlassen, aber nicht nach Hause zurückkehren wollen, finden einfach keine eigene Wohnung. Hier braucht es dringend Lösungen.

Frage: Eine mögliche Lösung könnte das Gewalthilfegesetz sein, das das Bundeskabinett vor ein paar Tagen beschlossen hat und das Frauen besser vor Gewalt schützen soll. Wie bewerten Sie dieses Gesetzesvorhaben?

Fritz: Wir begrüßen sehr, dass die Bundesregierung sich mit dem Gesetz endlich auf den Weg macht, ihren Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention nachzukommen. Mit dieser Konvention hat sich die Bundesrepublik schon 2018 dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen sowie häusliche Gewalt zu verhüten und zu bekämpfen. Dass sich die deutsche Politik so lange Zeit gelassen hat mit der Umsetzung der Konvention ist kein Ruhmesblatt. Nun aber liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der etwa mit Blick auf die Finanzierung von Schutzmaßnahmen und Präventionsangeboten gute Regelungen vorsieht.

„Das Opfer ist niemals schuld an der Gewalt – schuld ist immer der Täter.“

—  Zitat: Yvonne Fritz

Frage: Haben Sie Sorge, dass das Gesetz der aktuellen politischen Lage zum Opfer fällt? Immerhin gibt es im Bundestag mindestens bis Ende Februar keine klaren Mehrheitsverhältnisse, weshalb sich das Gesetz weiter verzögern könnte.

Fritz: Ich hoffe es nicht – allerdings sind die aktuellen politischen Verhältnisse natürlich eine Herausforderung. Wir setzen als SkF aber darauf, dass sich noch vor der Neuwahl des Bundestags eine Mehrheit im Parlament für das Gesetz finden wird. Die Zeit drängt und eigentlich sollten sich alle demokratischen Fraktionen bei diesem Thema weitgehend einig sein.

Frage: Politische Maßnahmen allein werden das Gewaltproblem wohl allerdings nicht lösen können. Was muss aus Ihrer Sicht gesellschaftlich passieren, um die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen zu senken?

Fritz: Vor allem müssen wir viel stärker als bisher auf das Gewaltproblem aufmerksam machen und dafür sensibilisieren – und zwar schon in den Kindergärten und Schulen. Schon Kindern muss klar gemacht werden, dass Gewalt niemals eine Lösung ist und auch nicht toleriert werden darf. Das gute und gleichberechtigte Miteinander der Geschlechter muss schon von klein auf eingeübt werden.

Frage: Und was empfehlen Sie Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind?

Fritz: Entscheidend ist, das Schweigen zu brechen und sich Hilfe und Verbündete zu suchen, um auf diese Weise der Gewalt zu entkommen. Ein Täter kann nur weiter Macht ausüben, wenn die Frau ihm allein gegenübersteht. Es gibt inzwischen viele Beratungsangebote, an die sich Betroffene auch ganz diskret wenden können – nicht nur bei uns, sondern zum Beispiel auch beim Weißen Ring. Ich möchte alle betroffenen Frauen wirklich dazu ermutigen, sich Unterstützung zu suchen und die eigene Scham und möglicherweise die eigenen Schuldgefühle zu überwinden. Das Opfer ist niemals schuld an der Gewalt – schuld ist immer der Täter. Ermutigend kann dabei aktuell der Blick nach Frankreich sein: Wie Gisèle Pelicot als Betroffene schlimmster Sexualverbrechen bei dem Prozess in Avignon öffentlich mit ihrem Schicksal umgeht, ist großartig und eine riesige Ermutigung für alle Frauen.

Von Steffen Zimmermann

Linktipp

Der SkF-Gesamtverein listet auf seiner Internetseite zahlreiche Hilfsangebote für von Gewalt betroffene Frauen auf. Unter anderem finden sich auf der Seite Informationen zu Frauenhäusern und Beratungsstellen.