Warum Bonhoeffers "Von guten Mächten" auch heute noch zu Tränen rührt
Wer kennt nicht Momente im Leben, in denen ein jeder und jede sich nach einem guten Wort, einem Menschen, einer Melodie, einem Text, einem Kraftort, einer Umarmung, einer Landschaft, einem Lied oder einem Gespräch sehnt. Manchmal ist es ein leises Ausschau halten nach etwas, wo sich die aufgeschreckte Seele geborgen weiß. Wie kein anderer Text rührt das Gedicht des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) "Von guten Mächten wunderbar geborgen" immer wieder zu Tränen. Seine Worte gehen zu Herzen. Unzählige Menschen begleiten diese Worte in schweren Zeiten: bei der Trauer um einen lieben Menschen, einer schweren Diagnose, in Stunden der Einsamkeit, bei Verlust von Vertrautem und bei der Sorge um das Morgen. Bei den Jugendkursen in der Abtei Münsterschwarzach haben wir dieses Lied immer in der Silvesternacht gesungen zu Beginn der Eucharistiefeier. Da hat uns das Lied mit Vertrauen und Hoffnung in das Neue Jahr hineingeführt.
Bonhoeffer schrieb dieses Gedicht im Dezember 1944 im Gefängnis der Gestapo-Zentrale in der damaligen Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Heute trägt die Gedenkstätte den Namen "Topographie des Terrors". Bis heute sind die Kellerräume zugänglich. Ein Besuch der Gedenkstätte lässt erahnen, in welch bedrückender, einsamer und ängstlicher Situation Bonhoeffer sich befand. Das Gedicht lag dem Weihnachtsbrief vom 19. Dezember 1944 bei, den er seiner Verlobten, Maria von Wedemeyer, und seinen Eltern schrieb. Er findet Worte, die angesichts seiner Situation anrühren. Wenige Monate nach seinem Brief an seine Liebsten, am 9. April 1945, wurde Bonhoeffer auf Befehl Hitlers im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. 2025 jährt sich sein 80. Todestag. Auch nach 80 Jahren berührt und begleitet dieses Gedicht, das in unzähligen Sprachen übersetzt wurde, gerade auch als Lied. Weit über 70-mal wurde es vertont. Sehr bekannt ist die Melodie des Liedermachers Siegfried Fietz und des Kantors Otto Abel. Besonders ist auch, dass das Lied im deutschsprachigen Raum im katholischen Gotteslob und im evangelischen Gesangbuch zu finden ist.
Die siebte Strophe ist wohl die bekannteste des Gedichts: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag." Von den guten Mächten weiß sich Dietrich Bonhoeffer geborgen. Er schreibt in diesem Brief vom 19. Dezember, was er unter den "guten Mächten" versteht: "Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat." Bonhoeffer weiß sich in mitten seiner Situation nicht völlig allein. Es sind die guten Mächte, denen er sich vergewissert und er empfängt sie. Er weiß sie um sich. Sie lassen ihn spüren: Gott ist nahe. Auch die Engel weiß er um sich, wenn er in dem Brief auch schreibt: "Wenn es im alten Kirchenlied von den Engeln heißt: 'zweie die mich decken, zweie die mich wecken', so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute sichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder." Die christliche Tradition bewahrt die tiefe Weisheit auf, dass jeder Mensch am Anfang seines Lebens einen Engel an die Seite gestellt bekommt. Dieser Engel trägt uns am Ende unseres Lebens sanft in Gottes liebende Hände. Das biblische Bild des Engels zeigt uns, dass wir in keiner Situation, auch wenn sie noch so schmerzlich ist, allein sind. Wenn Kinder sich von ihren Eltern oder ihrer Umgebung nicht angenommen fühlen, dann vertrauen sie dem Engel an ihrer Seite. Der Engel hält sie aus, auch wenn sie sich manchmal selbst nicht aushalten können. Sie fühlen sich vom Engel begleitet und liebevoll umarmt. Es ist kein Gegensatz, in den wunderbaren Mächten die liebende Verbundenheit mit Menschen zu spüren, die an mich denken und für mich beten, oder die Engel, die mich mit schützend umarmen und begleiten. Sie zeigen uns, dass wir auch in schweren Stunden unseres Lebens nie ganz allein sind. Die guten Mächte sind stets um uns, sie bilden einen Mantel der Geborgenheit, in dem wir uns bergen können. Er ummantelt die Ängste und Sorgen. Er gibt Wärme in Einsamkeit.
Es braucht eine "Ummantelung"
In Zeiten wie diesen braucht es eine "Ummantelung", meint der Philosoph und Autor Jean-Pierre Wils. Er befasst sich angesichts von Trauer und Krisen mit dem Begriff des Trostes und geht seinen Bedeutungen nach. Trost grenzt er ganz klar von Vertröstungen ab und schreibt: "[…] Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele." Das Leiden wird nicht einfach aufgehoben, sondern, so Wils, ummantelt. Das macht das Leiden nicht geringer, es wird umhüllt mit Beistand und einem Moment der Geborgenheit. Nicht nur als Kinder haben wir einen warmen Mantel gebraucht, der uns gewärmt hat. In jeder Lebensphase und jedem Lebensalter braucht es einen Mantel, der die Seele wärmt und birgt.
Im Gefängnis ist es nie still gewesen. Viel Unruhe und Dunkelheit muss Dietrich Bonhoeffer erfahren haben, wenn er in der fünften Strophe schreibt: "Lass warm und hell die Kerzen heute flammen, die du in unsre Dunkelheit gebracht. Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht." und in der sechsten Strophe angesichts der nie einkehrenden Stille im Gefängnis ein anderes Bild schildert: "Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang." Den vollen Klang, die flammenden Kerzen und die einkehrende Stille sind wunderbare Bilder, die Bonhoeffer wählt. Im Schein der Kerzen des Weihnachtsfestes sind Menschen miteinander verbunden. Das Licht, das in der Nacht scheint, ist das göttliche Licht, dass erahnen lässt, dass wir im Licht geborgen sind.
Bonhoeffers Gedicht wäre missverstanden, wenn es heldenhaft verstanden würde. Er kennt die Zweifel, die Unruhe, die Angst und die Traurigkeit. Berührend schildert er das auch in einem anderen Gedicht: "Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!" Zum Leben gehören Zeiten des Wandels, des Zweifels und der Unsicherheit. Zum Leben gehört auch das Unvollendete und Zerbrechliche und in all dem kleidet Bonhoeffer das Vertrauen und die Hoffnung in die Worte: Gott weiß darum. Bei Gott ist es aufgehoben. Es braucht deshalb, um der Menschen und um Gottes willen, Orte, die die Sehnsucht nach dem ganz Anderen wachhalten. Sich am Morgen und am Abend den guten Mächten anzuvertrauen und sich mit Gott zu verbinden, dabei unterstützen uns kleine Rituale. So ein Ritual könnte das Segensritual sein. Am Morgen erhebe ich die Hände zum Segen und stelle mir vor, dass Gottes Segen durch meine Hände in den Tag strömt, so dass ich in einen gesegneten Tag gehe. Und der Segen strömt zu den Menschen, die mir lieb sind. Der Segen Gottes hüllt diese Menschen dann ein wie ein schützender und bergender Mantel. So fühle ich mich mit ihnen verbunden und kann sie zugleich loslassen und sie Gottes Schutz anvertrauen. Und der Segen kann zu allen Menschen fließen, denen ich heute begegnen werde. Dann werde ich nicht nur mich, sondern auch die Menschen um mich herum von Gottes guten Mächten wunderbar geborgen fühlen und ich werde ihnen anders begegnen. Am Abend kann mir das Lied helfen, dankbar auf den vergangenen Tag zu schauen, auch wenn ich da wie Bonhoeffer schmerzliche Erfahrungen machen musste. Dann weiß ich mich trotzdem in Gottes guten Mächten liebevoll umgeben und kann mich getrost im Schlaf in Gottes guten Händen bergen.
Das Gedicht von Bonhoeffer kann wie ein Zufluchtsort für uns werden, wenn wir uns – wie es im Gedicht heißt – ängstliche Sorgen quälen, wenn uns schwere Lasten drücken und unsere Seelen aufgewühlt sind und wir einen schweren und bitteren Kelch zu trinken haben. Zuflucht ist keine Flucht vor der unsicheren und aufgewühlten Weltsituation, die uns ängstigt, sondern ein Ort, der uns mitten in der Dunkelheit wie ein Licht ist, das die Dunkelheit erhellt. Dieser Ort der Zuflucht kann uns eine Kapelle sein, in der wir uns geborgen fühlen. Dieser Ort ist aber auch in uns. In uns ist ein heiliger Raum, der dem Zugriff der Welt entzogen ist, in dem Gott selbst in uns wohnt. Dort wo Gott in uns wohnt, finden wir in uns selbst Geborgenheit und Schutz, dort fühlen wir uns von Gottes Liebe ummantelt.