Missio-Präsident: Politik darf Syriens Christen nicht mehr enttäuschen
Alljährlich ruft die katholische Kirche in Deutschland kurz nach Weihnachten, am Gedenktag des Heiligen Stephanus, zum Gebet und Einsatz für verfolgte und bedrängte Christen in der Welt auf. In diesem Jahr ist es vor allem der Nahe Osten, der im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht – der Konflikt im Heiligen Land und im Libanon, und nun auch wieder in Syrien. Nur drei Wochen sind seit dem Sturz des Assad-Regimes vergangen. Für die Syrerinnen und Syrer, insbesondere auch für die christliche Minderheit im Land, ist dies ein vorläufiger Schlusspunkt nach mehr als zehn Jahren Bürgerkrieg, selbst wenn die Zukunft alles andere als klar ist.
In diesen Tagen sagten uns syrische Christen oft, dass sie von der Diplomatie der Europäischen Union und deutschen Bundesregierung bisher enttäuscht waren. Von einem menschenrechtlich inspirierten Einsatz hätten sie in den Jahren der folternden Diktatur, während des arabischen Frühlings oder im Bürgerkrieg kaum etwas gespürt.
Christen vermissen Wort Trauer ihrer Kirche
Heute, nach dem Sturz des Assad-Regimes, erfüllt die Christinnen und Christen neben Sorgen und Ängsten eine neue Hoffnung – die Hoffnung, dass künftig alle Bürger ungeachtet ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit die eigene Zukunft wie auch die des Landes aktiv und frei mitgestalten können. Sie wollen sich in diesen Prozess gleichberechtigt mit allen anderen einbringen. Manche hinterfragen dabei auch selbstkritisch die eigene Rolle während des Assad-Regimes. So vermissen sie ein öffentliches Wort der Trauer ihrer Kirche über die Opfer der Diktatur. Für all das seien die kommenden Wochen eine unwiederbringliche, "goldene Chance", wie es einer unserer Gesprächspartner formulierte. Diese dürfe auch von der westlichen Politik nicht vertan werden.
Dabei sind unsere christlichen Partner im Land nicht naiv. Sie wissen, wie kompliziert, unvorhersehbar und gefährlich auch für sie die Lage ist. Das Land ist in verschiedene Einflusssphären aufgeteilt. Die Türkei, Israel, Russland, die USA, der Iran, Katar und andere arabische Staaten verfolgen eigene Interessen. In den Regionen rund um Homs, Aleppo oder Damaskus, in denen ein größerer Teil der noch verbliebenen rund 250.000 Christen Syriens leben, hat die islamische HTS-Miliz das Sagen. Sie bildet Syriens Übergangsregierung und will das Land künftig islamisch ausrichten. Zwar geben sich die früheren Al-Kaida-Ideologen und Kämpfer dabei moderat, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Scharia in einer künftigen Verfassung eine entscheidende Rolle spielt. Die Angehörigen der verschiedenen Minderheiten im Land hegen in diesem Fall große Ängste, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Selbst ein Teil der Sunniten ist gegenüber einer solchen Entwicklung skeptisch, da sie Übergriffe von Islamisten befürchten, wie wir hören. Mittlerweile erlebt Damaskus auch Demonstrationen von Syrerinnen und Syrern für die Achtung der Frauenrechte. Sie alle erhoffen sich von Europa und Deutschland ein ehrliches Interesse an der Zukunft des Landes und kein Wegschauen, wie es in den vergangenen Jahren oft der Fall war.
Um die Hoffnung der Menschen in Syrien nicht zu enttäuschen, muss die gesamte europäische Politik die Kontakte zur neuen Führung in Damaskus intensivieren. Am wichtigsten ist dabei zunächst die dringend notwendige Ausweitung der humanitären Hilfe. Gleichzeitig sollten in den entsprechenden Verhandlungen die Themen Menschenrechte, Religionsfreiheit und auch politische Partizipation von zentraler Bedeutung sein. Denn die Angehörigen von Minderheiten müssen an künftigen verfassungsgebenden Prozessen beteiligt sein. Von einer Mitarbeit, von verantwortlichen Positionen in Ministerien, Verwaltung oder anderen staatlichen Einrichtungen dürfen sie nicht ausgeschlossen werden. Zudem brauchen diese Minderheiten einen öffentlichen Raum für zivilgesellschaftliches Engagement. Hier könnte Deutschland seine Expertise und Erfahrung gestaltend einbringen.
Nicht zuletzt müssen aber die neuen Machthaber garantieren, dass diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die Minderheiten, Regimekritiker oder Andersdenkende bedroht oder verfolgt haben. Dazu zählt in besonderer Weise die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen des Assad-Regimes. Ein erster wichtiger Schritt. Es wird lange dauern, die tiefsitzenden Wunden und Traumata in der Gesellschaft zu heilen.
Den Stephanustag begeht die Kirche in jedem Jahr. Das ist gut so, weil uns so das Schicksal unserer bedrängten Mitchristen nicht aus dem Blick gerät. Nach der großen medialen Aufmerksamkeit der vergangenen Wochen werden nun auch die kommenden Monate für Syrien und die christliche Minderheit entscheidend sein. Gerade letztere will nach mehr als einem Jahrzehnt von Gewalt und Vertreibung nicht erneut enttäuscht werden. Welche Situation werden wir also in einem Jahr in Syrien vorfinden? Der heutige Gebetstag für bedrängte und verfolgte Christen sollte uns und den politisch Handelnden die Verantwortung gegenüber den Menschen in Syrien vor Augen führen.