Antijüdisches Relief: Wittenberger "Judensau" soll Lernort werden
Sie gehört zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters und sorgt seit Jahrzehnten für Streit: Die Darstellung der "Judensau" an der Stadtkirche zu Wittenberg, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), löst bis heute hitzige Diskussionen aus. Vielfach wurde gefordert, die antijüdische Darstellung von der Fassade der Kirche zu entfernen oder sie mit entsprechenden Erklärungen in einem musealen Kontext auszustellen.
Doch der Gemeindekirchenrat hat sich anders entschieden: Im Oktober 2022 sprach er sich gegen die Empfehlung eines Expertenrates für den Verbleib der Schmähplastik an der Kirche aus. Die "Stätte der Mahnung", die rund um das Relief entstanden ist, soll in den kommenden Jahren weiterentwickelt werden. Im Juni 2023 hat ein dafür eingerichteter Ausschuss seine Arbeit aufgenommen. Ihm gehören unter anderem der Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, Christoph Maier, der frühere Direktor der Luthergedenkstätten, Stefan Rhein, sowie der Wittenberger Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos) an.
Darstellung zeigt Rabbiner, der hinter einer Sau kniet
Die um 1300 entstandene "Judensau"-Darstellung zeigt einen Rabbiner, der hinter einer Sau kniet, um in deren After den Talmud, eines der wichtigsten Werke des Judentums, zu studieren. Zwei weitere Männer, die als Juden erkennbar sind, saugen an den Zitzen der Sau, während eine vierte Person ein Ferkel am Ohr festhält, um es offenbar von der Sau fernzuhalten.
Unkommentiert ist die Darstellung schon seit Jahren nicht mehr. 1988 wurde unterhalb der Plastik eine Bodentafel eingelassen, die insbesondere an den Holocaust erinnert. 1990 stellte die Gemeinde zudem eine Zeder aus Israel an der Stelle auf. Eine neue Infotafel enthält seit 2023 eine Vergebungsbitte und benennt eine Mitschuld der evangelischen Kirche an der Judenverfolgung.
"Antisemitismus nimmt ja weiter zu, und wir müssen da klar Stellung beziehen", sagt der Pfarrer der Stadtkirchengemeinde, Matthias Keilholz, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dazu habe der Ausschuss vier "Säulen" entwickelt, die zur Weiterentwicklung der Gedenkkultur rund um die "Stätte der Mahnung" beitragen sollen.
Ein Element sind laut Keilholz geistlich-theologische Impulse. Jedes Jahr soll es am "Israelsonntag", der meistens im August begangen wird und der an das besondere Verhältnis der Kirche zu Israel erinnert, eine vertiefte theologische Auseinandersetzung mit dem Thema geben. Zudem soll der Gedenkort als Bildungs- und Lernort erweitert werden. Dazu will die Gemeinde auch Schulen stärker einbinden. Als dritte Säule sind spezielle Formen der Erwachsenenbildung geplant, etwa zwei Workshops zum Thema Antisemitismus Anfang 2025.
„Dieser Gedenkort aus Stein, Bronze und Leben soll ein Aufruf sein, alles dafür zu tun, um eine Wiederkehr der Verfolgung und Ermordung von Menschen für alle Zeiten zu verhindern.“
Akademiedirektor Maier sieht zudem temporäre Kunstaktionen und künstlerische Interventionen als Mittel, um die Auseinandersetzung mit dem Relief zu fördern. Zuletzt hatten zwei Studentinnen der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle vorgeschlagen, die Plastik in einer Kunstaktion zu verhüllen. Hierzu steht eine Entscheidung noch aus.
Plastik besonders mit mit Luthers Antijudaismus verbunden
Es gehe darum, den historisch gewachsenen Gedenkort auch als Lern- und Bildungsort zu etablieren, betont Maier. Hinzu kommt: Gerade die Plastik in Wittenberg sei besonders mit Luthers Antijudaismus verbunden. "Das muss auf jeden Fall eine Rolle spielen", fordert er.
Oberbürgermeister Zugehör, der dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags angehört, verweist auf eine Erklärung des Stadtrats von 2017. Darin sprechen sich die Stadträte für den Erhalt des Reliefs aus. Sie verweisen auf den Dreiklang aus Plastik, Bodenplatte und Zeder: "Dieser Gedenkort aus Stein, Bronze und Leben soll ein Aufruf sein, alles dafür zu tun, um eine Wiederkehr der Verfolgung und Ermordung von Menschen für alle Zeiten zu verhindern", heißt es in der Erklärung.