Zu "Frischfleisch" degradiert: Autorin verschafft Ex-Heimkind Gehör
"Ich war nichts wert", sagt Heinz. Christiane Florin sagt, ihre Recherchen bestätigten das. Und Heinz sei kein Einzelfall. Die mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Autorin hat einem ehemaligen Heimkind unter dem Pseudonym Heinz ihr neues Buch gewidmet, in dem sie ihn selbst seine Geschichte erzählen lässt: Als "Frischfleisch" für einen katholischen Priester und wehrloses Opfer einer sadistischen Erzieherin.
In "Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte" stellt Florin ihre Rechercheergebnisse neben die Schilderungen des Betroffenen. Recherchen über die Geschichte eines Jungen, der in den 60er Jahren beide Eltern verliert und anschließend in einem kirchlichen Kinderheim aufwächst. Recherchen über seine Familie und seine Peiniger. Recherchen über Kinderheime in der Nachkriegszeit im Allgemeinen und die Aufarbeitungsgeschichte.
Florin: Systematische Aufarbeitung fehlt
"Zu einer systematischen, unabhängigen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen kam es 2010 nicht", bemängelt die Autorin. Katholische wie evangelische Kirche hätten gegenüber Politik und Öffentlichkeit ihre Erzählung über "bedauerliche Einzelfälle" lanciert – und die Bundesregierung habe sich von ihnen "einlullen" lassen. Damit sei verweigert worden, was Betroffene schon damals forderten: von Menschenrechtsverletzungen zu sprechen und das Unrecht umfassend aufzuarbeiten.
„An dem Kind ohne Lobby lebten Erwachsene im kirchlichen Dienst sadistische Neigungen aus.“
Auch Heinz kämpft darum, dass sich Verantwortliche von heute seine Leidensgeschichte anhören. Florin gibt dem ehemaligen Heimkind die Gelegenheit, in eigenen Worten zu berichten. Wer das liest, braucht oft starke Nerven – etwa in Kapitel acht: "Ich bin 1958 in D. geboren. Mein Vater hat sich am 1. Januar 1965 erschossen, was ich leider mitansehen musste. Ich bin 1965 ins 'Kinderdorf' ... gekommen. Am 25. Juni 1966 ist meine Mutter an Krebs verstorben. Zur Beerdigung meiner Mutter durfte ich nicht. Den Grund weshalb nicht weiß ich bis heute nicht. Im Heim wurde mir schnell klar gemacht, dass ich ein Mensch zweiter Klasse war."
Es folgten sieben Jahre voller Demütigungen und Misshandlungen, sexueller Missbrauch durch mehr als zwei Personen, Medikamentenversuche und schwerste körperliche wie seelische Verletzungen. Für seine Erzieherin und den Geistlichen des Kinderheims war er ein wehrloses Opfer: "Ich habe neues Fleisch für dich, er hat keine Eltern und wir brauchen nicht aufzupassen", zitiert Heinz die Schwester. Er schildert sein Leid auf 16 Seiten – immer wieder ergänzt durch Nachträge, die er nach schlimmen Alpträumen anfügt, die bisher verdrängte Erinnerungen wieder hochkommen ließen.
"Sie degradierten den Jungen zu Frischfleisch"
"Was er erlitten hat, ist mit Worten wie Gewalt, Misshandlung und Demütigung viel zu milde beschrieben", analysiert Florin und ergänzt: Seine Erzieherin und der Geistliche seien keineswegs bloß hinter den eigenen Ansprüchen christlicher Nächstenliebe zurückgeblieben: "Sie sahen in Heinz keinen Nächsten. Sie degradierten den Jungen zu Frischfleisch" und nicht als Mensch mit voller Würde: "An dem Kind ohne Lobby lebten Erwachsene im kirchlichen Dienst sadistische Neigungen aus." Generell hätten in Heimen viele Ausgelieferte gelebt, schreibt Florin weiter: Als Schutzbefohlene ohne Schutz und Anvertraute ohne Vertrauenspersonen seien sie Opfer sexualisierter Gewalt geworden, weil sie schon Opfer des Systems Heimerziehung waren.
Florin berichtet über eine Studie der Ruhr-Universität Bochum zur konfessionellen Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik zwischen 1949 und 1972: Bei der Vorstellung der Studie 2011 habe die Deutsche Bischofskonferenz angekündigt, die katholische Kirche werde unter anderem das Gespräch mit den Betroffenen führen und sie bei ihrer Suche nach Unterlagen und in ihrem Bemühen um Klärung ihrer Biografie nach Kräften unterstützen.
Florins Recherchen zeichnen ein anderes Bild: Heinz füllte Formular um Formular aus und erhielt mehrfach Anerkennungsleistungen von der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA). Doch das bedeute nicht, dass seine Geschichte daraufhin recherchiert worden wäre: "Für die detaillierte Rekonstruktion des Erlittenen ist die UKA nicht zuständig", schreibt Florin. Sie ergänzt, Geldzahlungen und Aufarbeitung gehörten eigentlich zusammen, denn beides wünschten sich viele Betroffene.
Das öffentliche Gedenken neu schreiben
Heinz möchte, dass die Geschichte seines Heims wissenschaftlich erforscht, aufgeschrieben, veröffentlicht und damit als gesellschaftlich bedeutend anerkannt wird. Denn das öffentliche Gedächtnis sei immer noch geprägt von Erzählungen über das segensreiche Wirken des Gründungsdirektors und von Jubiläumsartikeln über eine "Heimstatt für Jungen und Mädchen aus schwierigen Verhältnissen". Doch bis heute gebe es "kein gedrucktes Wort über Sadismus, Gewalt, Ausgeliefertsein, Bedrohung, die es dort auch gab", so Florin. Und Heinz wünscht sich ein Denkmal oder zumindest eine Tafel an der Kirche des Heims: "In Erinnerung an die misshandelten Kinder".
"'Ich war nichts wert'. Heinz sagt diesen Satz oft. Nach zwei Jahren Recherche komme ich zu demselben Ergebnis: Kinder wie er galten noch in den 1960er-Jahren als minderwertig", bilanziert die Autorin: "Für eine Institution, die sich dem Lebensschutz verschrieben hat, ergibt sich daraus bis heute eine gewaltige moralische Fallhöhe. Mein Verdacht: Es gäbe viele Heinze zu entdecken, wenn nach ihnen gesucht würde."
Buchtipp
Christiane Florin: Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte. Verlagsgruppe Patmos, Ostfildern 2025, 160 Seiten, 19 Euro. ISBN: 978-3-8436-1509-9