"So zu Ende leben, wie er gelebt hat"
Frage: Schwester Monika, das St.-Louis-Krankenhaus war als Hospiz eine Art Pionierprojekt. Ist es das immer noch?
Düllmann: Wir sind nicht als Hospiz gegründet worden. Wir sind Hospiz geworden, ohne zu wissen, was ein Hospiz ist. Wir haben von der Onkologie jenen Teil der Patienten übernommen, die keine aktive Therapie mehr brauchten, sondern Kontrolle der Symptome und Grundpflege. Das führt dazu, dass wir bis heute sowohl Patienten in der letzten Lebensphase aufnehmen, die auch ins Hospiz gehen könnten, als auch Patienten in der sogenannten aktiven Phase. Unsere Philosophie ist: Wir begleiten die letzte Lebensphase, und wir folgen dabei dem Patienten. Er muss sich nicht in Kategorien einordnen.
Frage: Gibt es im Heiligen Land eine Hospizbewegung?
Düllmann: Es gibt sie, aber sie begann deutlich später als in Europa. Hingegen gibt es kaum Hospizhelfer oder Krankenhausseelsorger. Das hat in den vergangenen zehn Jahren langsam begonnen, ist aber bis heute nicht anerkannt im Sinne eines Berufs. Die Rabbinerseminare bieten entsprechende Prüfungen an. Die christliche Seelsorge läuft über die Gemeinden. Und während in Europa muslimische Krankenhausseelsorge im Kommen ist, gibt es hier keinen einzigen solchen ausgebildeten Seelsorger. Im Islam scheint die Familie die religiösen Bedürfnisse der Patienten zu erfüllen. Gegenwärtig gibt es aber Pläne für eine gemeinsame Ausbildung von jüdischen und muslimischen Krankenhausseelsorgern.
Frage: Gibt es einen gemeinsamen Ansatz der drei Religionen beim Thema Palliativmedizin?
Düllmann: Juden, Christen und Muslime haben in Bezug auf Leiden, Sterben und Tod drei Prinzipien gemeinsam. Erstens: Das Leben gehört nicht dem Einzelnen; ich darf kein Leben zerstören, sondern muss es schützen und verlängern. Zweitens: Ich muss Leiden vermindern, Kranke heilen, Menschen in Not helfen. Das dritte Prinzip ist: Gott hat nicht nur die Welt geschaffen, sondern greift aktiv ins Geschehen der Welt ein. Letztendlich hat Gott etwas damit zu tun, wann jemand stirbt. Die Einigkeit in diesen drei Prinzipien erlaubt uns etwa, eine gemeinsame Ethikkommission zu haben. Unterschiede können bei der Schwerpunktsetzung auftreten, wenn es einen Konflikt zwischen den verschiedenen Prinzipien gibt.
Frage: Welches Prinzip setzt sich dann in welcher Religion durch?
Düllmann: Auch wenn man nicht verallgemeinern darf, gibt es eine Tendenz: Für Christen steht Leidensverminderung ganz oben. Ich kann in Kauf nehmen, dass jemand früher stirbt, wenn ich sein Leiden mindern kann. Im Judentum ist es die Lebensverlängerung: Gott hat das Leben gegeben; es gehört mir nicht, und deshalb soll ich es so lange wie möglich leben. Aber es gibt einen Ermessensspielraum; deswegen gibt es auch im Judentum Palliativmedizin. Im Islam steht oft das dritte Prinzip an oberster Stelle: Kein Patient stirbt, ohne dass Gott das will - das gibt große Kraft, wenn jemand stirbt.
„In einem Land, in dem die meisten Menschen monotheistisch religiös sind, ist aktive Lebensverkürzung daher kaum ein Thema.“
Frage: Wie gehen Sie im Krankenhausalltag damit um?
Düllmann: Wir versuchen, jedem seine letzte Lebensphase so zu ermöglichen, wie er gelebt hat. Ich muss ihm helfen, dass er so zu Ende lebt, wie er gelebt hat, und darf nicht denken: Ich weiß es besser. Aber unabhängig von der Religion haben wir einen palliativen Ansatz, der sagt: Gib den Tagen Leben.
Frage: In Europa hat der Palliativbewegung zuletzt die Diskussion um Suizidbeihilfe Aufwind verliehen. Gibt es eine ähnliche Diskussion in Israel?
Düllmann: Es gibt sie, aber sie geht lange nicht so weit wie in Europa. Für die drei Hauptreligionen hier gilt Lebenserhaltung als wichtiges Prinzip. In einem Land, in dem die meisten Menschen monotheistisch religiös sind, ist aktive Lebensverkürzung daher kaum ein Thema.
Frage: Das Haus ist bekannt für sein friedliches Zusammenleben. Das ist ungewöhnlich in diesem konfliktträchtigen Land.
Düllmann: Als Krankenhaus haben wir den Vorteil, dass wir weder politisch noch religiös aktiv werden müssen. Wir pflegen Patienten. Der zweite Vorteil ist, dass sich Leute hier in einer Notsituation kennenlernen, die sie verbindet. Der Rest tritt völlig in den Hintergrund. Das ist ein Geschenk der Sterbenden an uns: Sie lassen uns sehen, was wirklich wichtig ist.