Gemeinsam gegen die Mauer
Frage: Herr Jauer, welche persönlichen Erinnerungen haben Sie an den 9. November 1989?
Jauer: Ich bin an diesem Tag von einer längeren Berichterstattungsreise aus der Tschechoslowakei nach Wien zurückgekehrt, wo ich für das ZDF als Osteuropa-Korrespondent tätig war. Im deutsch-tschechischen Grenzgebiet hatte ich in den Tagen zuvor gedreht, wie DDR-Bürger über die Grenze nach Bayern ausreisen durften. Damit war klar, dass nun nicht mehr nur über Ungarn, sondern auch über die Tschechoslowakei die freie Ausreise in den Westen möglich war.
Frage: Dabei blieb es aber nicht: Auch in Berlin öffneten sich schließlich die Schlagbäume. Wie haben Sie vom Fall der Mauer dort erfahren?
Jauer: Durch das österreichische Fernsehen. Als ich abends in meiner Wiener Wohnung vor dem Fernseher saß, unterbrach der Österreichische Rundfunk plötzlich sein Programm und zeigte die Bilder von den Ereignissen in Berlin.
Frage: Was ging Ihnen in diesem Augenblick durch den Kopf?
Jauer: Ich konnte es nicht glauben. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, was dort an der Mauer vor sich ging. In dieser Form hatte ich damit nicht gerechnet. Zwar hatte ich erwartet, dass die SED-Führung früher oder später einlenken und die ersehnte Reisefreiheit gewähren würde. Aber dass sich die DDR-Bürger den Weg in den Westen quasi selbst frei machen würden, hätte ich nicht gedacht.
Frage: In Ihrem Buch betonen Sie den Beitrag von Kirchen und Christen auf dem Weg zum Mauerfall. Wie sah dieser Beitrag konkret aus?
Frage: Ich muss Ihnen widersprechen: Ich beschreibe nicht den Beitrag der Kirchen, denn den hat es meiner Überzeugung nach gar nicht gegeben. Vielmehr war es der Beitrag von vielen einzelnen Christen, der maßgeblich zum Mauerfall beigetragen hat. Lediglich in Polen hat die Kirche eine wichtige Rolle gespielt. Die katholische Kirche stand dort immer an der Seite der kleinen Leute. Aus diesem Grund konnte sie sich frühzeitig und machtvoll in den Reformprozess einschalten.
Frage: Wie passt diese Analyse mit der Tatsache zusammen, dass in nahezu jedem Rückblick speziell auf die Ereignisse in der DDR der wichtige Beitrag der evangelischen Kirche gewürdigt wird?
Jauer: Auch diesen Beitrag hat es so nicht gegeben. Die einzelnen Landeskirchen in der DDR haben sich vielmehr sehr unterschiedlich verhalten: Viele Gemeinden haben zwar Ihre Türen für kritische Debatten und Friedensgebete geöffnet. Andere aber waren zurückhaltender und haben sich nur zögerlich den Reformforderungen der Bevölkerung angeschlossen. Von einem einheitlichen Kurs der evangelischen Kirche in der DDR kann man deshalb meiner Überzeugung nach nicht sprechen.
Frage: Halten Sie die gängige Bewertung der Rolle der evangelischen Kirche beim Wendeprozess in der DDR also für falsch?
Jauer: Nein, natürlich haben die evangelischen Kirchen auch bedeutende und bleibende Verdienste erworben. So ist es beispielsweise eine historische Leistung, dass sie die Klagen über die Mängel des sozialistischen Alltags auf ihren Synoden öffentlich gemacht haben – auch vor unseren Fernsehkameras. Sie gaben der Kritik an der Militarisierung der Jugend, an der Ausreiseproblematik und an der schulischen Erziehung in der DDR eine Stimme. Nicht unterschätzen sollte man zudem, dass die evangelischen Kirchen auf ihren Synoden und durch die Wahl von Bischöfen ein Stück Demokratie in einem undemokratischen Staat ausgeübt haben. Die beteiligten Christen hatten so die Möglichkeit, das demokratische Debattieren und den offenen Austausch von Argumenten zu lernen. Das erklärt auch die wichtige Rolle, die zahlreiche evangelische Pfarrer bei der Wiedervereinigung gespielt haben.
Frage: Wie bewerten Sie demgegenüber die Rolle von Katholiken und der katholischen Kirche beim Wendeprozess?
Jauer: Bevor man diese Frage beantworten kann, muss man sich zunächst klarmachen, dass die katholische Kirche in der DDR eigentlich ein Fremdkörper war. Das Gebiet der DDR war seit der Reformation strenges Lutherland, katholische Gemeinden gab es hier erst mit dem Flüchtlingsstrom seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die katholische Kirche befand sich in der DDR also immer in einer Diaspora-Situation. Hinzu kam, dass die katholischen Bischöfe von Anfang an die Devise ausgegeben haben: Wir Katholiken halten ganz eng zusammen, machen uns klein und versuchen, dieses Regime so unbeschadet wie möglich zu überstehen.
Frage: Also eine Art innere Emigration?
Jauer: So ist es. Das bedeutet allerdings nicht, dass die katholische Kirche nicht auch ein offenes Wort zu den Problemen in der DDR gesagt hätte. Im Unterschied zu den evangelischen Kirchen blieben die teilweise sehr klaren und kritischen Hirtenworte der katholischen Bischöfe jedoch überwiegend in den Gemeinden.
Frage: National waren die Katholiken also eher zurückhaltend, international hatte die Reformbewegung dafür einen umso mächtigeren katholischen Fürsprecher: Papst Johannes Paul II. Wie wichtig war sein Engagement in dieser Zeit?
Jauer: Der Einsatz von Johannes Paul II. für den Reformprozess ist nicht zu unterschätzen. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Als Johannes Paul II. 1979 seine Heimat Polen besuchte, sagte er bei einem Gottesdienst in Warschau "Der Geist Gottes komme herab auf diese Erde". Interessant ist dabei, dass das polnische Wort für "Erde" gleichzeitig auch "Land" heißen kann. Der Papst rief also den Geist Gottes an, damit dieser das Angesicht seines Heimatlandes verändere. Dies war eine deutliche Herausforderung der kommunistischen Machthaber. Johannes Paul II. – und das ist sein großes Verdienst – hat die Menschen in Polen und dem gesamten Ostblock zum Abschied vom Kommunismus angestiftet.
Frage: Kommen wir in die Gegenwart: Wie bewerten Sie heute die Lage von Kirche und Christen in Ostdeutschland?
Jauer: Viele haben nach der Wiedervereinigung gesagt "Deutschland ist größer und protestantischer geworden". Ich habe das schon damals für einen Irrtum gehalten und stattdessen gesagt "Deutschland ist größer und atheistischer geworden". Dies ist wahrscheinlich der größte Erfolg, den die kommunistische SED-Diktatur hinterlassen hat: Dass sie ein einstmals christlich geprägtes Land in ein verbreitet atheistisches Land verwandelt hat. Insofern ist die Lage von Kirche und Christen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR auch 23 Jahre nach dem Mauerfall immer noch sehr schwierig.
Frage: Wie kann Kirche sich angesichts dieser schwierigen Bedingungen dennoch Gehör verschaffen?
Jauer: Ein Neuanfang, also eine Art Neuevangelisierung, ist sehr schwer. Wie es vielleicht dennoch gehen kann, zeigt das Bistum Erfurt. Dort macht man seit einiger Zeit ungetauften und kirchlich ungebundenen Menschen Angebote, um sie langsam mit Kirche und Religion bekannt zu machen. Ein Beispiel ist die "Feier zur Lebenswende" für junge Menschen, die nicht konfirmiert oder gefirmt werden wollen. Dieses Angebot soll eine Alternative zur immer noch stark verbreiteten Jugendweihe sein. Außerdem lädt das Bistum zu Trauergottesdiensten und zu Begegnungen für Paare, Geschiedene oder Singles ein. Ziel dieser Veranstaltungen ist es, Menschen in ihren Beziehungen oder auch in Notlagen mit christlichen Werten zu helfen.
Frage: Also gibt es zumindest im Kleinen Ansätze, den von der SED-Diktatur verordneten Atheismus zu überwinden.
Jauer: Ja, aber eben nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und nicht mit dem Taufwasser im Gepäck. Sondern zunächst ganz niedrigschwellig, um eine von Kirche und Religion völlig entfremdete Gesellschaft langsam wieder mit den Traditionen des Christentums vertraut zu machen.
Das Interview führte Steffen Zimmermann