Aufgabe sei das Brückenbauen

Bischof Wilmer: Als Kirche nicht den moralischen Zeigefinger heben

Veröffentlicht am 14.03.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 6 MINUTEN

Kall ‐ Union und SPD arbeiten an einer neuen Regierungskoalition. Nach dem harten Wahlkampf gilt es nun, die Menschen wieder zusammenzuführen, sagt der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer im katholisch.de-Interview. Er mahnt die Kirche aber auch, die Entscheidungsträger zu unterstützen.

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Im Wahlkampf sorgte das Schreiben der Kirchen zur Migrationspolitik für Aufsehen. Wie geht es jetzt weiter? Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer ist Vorsitzender der Kommission der Deutschen Bischofskonferenz (DB) für gesellschaftliche und soziale Fragen. Er spricht im Interview über das Verhältnis von Kirche und Politik – und plädiert für eine politische Kirche.

Frage: Herr Bischof Wilmer, der Bundestagswahlkampf war hart. Nun geht es darum, die Menschen wieder zusammen zu führen. Wie kann das gelingen?

Wilmer: Dafür habe ich kein Patentrezept. Das Zusammenführen verschiedener Gruppen ist hoch komplex und äußerst schwierig. Doch es gibt Elemente, die helfen: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir zu einer guten Streitkultur kommen. In der Sache müssen wir heftig streiten, aber ohne uns persönlich zu diffamieren oder geringzuschätzen. Dabei müssen wir immer das Argument des jeweils anderen retten und uns fragen, warum das Gegenüber zu einer anderen Position kommt.

Frage: Kritiker sind der Ansicht, dass die Kirche durch ihre Wortmeldung zur Migrationspolitik auch zum Streit beigetragen hat. Vor allem in der Union war man ziemlich sauer. Kann die Kirche also auch ein Instrument sein, diese Streitkultur wieder zu etablieren?

Wilmer: Es ist eine ganz ursprüngliche Aufgabe der Kirche, Brücken zu bauen. Der Kirche ist durch das Evangelium ins Grundbuch geschrieben: Schaut zu, wie ihr Menschen zusammenführt, Wunden heilt, gegensätzlich ausgerichtete Gruppen zusammenbringt und für Frieden sorgt, bei aller Heterogenität.

Frage: Gerade diese Heterogenität prägt Deutschland, die Schere zwischen Reich und Arm öffnet sich weiter und weiter. Was wünschen Sie sich da von einer neuen Bundesregierung?

Wilmer: Ich wünsche mir einen größeren Zusammenhalt. Dabei ist die Kirche ein Bündnispartner der Regierung. Wir unterstützen sie konstruktiv-kritisch – mit dem Ziel, die Würde des Menschen auf der Grundlage des Evangeliums in den Mittelpunkt unserer Überlegungen und unseres Tuns zu stellen. Diese Würde ist unverfügbar. Sie kann nicht durch demokratische Beschlüsse verändert werden.

„Denn dem Staat und der Kirche sind die gleichen Menschen anvertraut. Die Verantwortung ist zum großen Teil geteilt.“

—  Zitat: Heiner Wilmer

Frage: Das heißt, wenn im Sondierungspapier etwa härtere Sanktionen für Bürgergeldempfänger geplant sind, steht die Kirche dagegen auf?

Wilmer: Wir sollten als Kirche nicht den moralischen Zeigefinger erheben oder alles besser wissen. Wir sollten das Wort Jesu ernst nehmen, wenn er von einer Trennung des Säkularen und des Religiösen spricht: "So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" (Mt 22,21) Wir als Kirche sollten den verantwortlichen Politikern grundsätzlich trauen. Sie haben ein Mandat und wurden auch von Vertretern der Kirche gewählt. Dieses Mandat gilt es zu respektieren. Es ist unsere Aufgabe als Kirche, diese Entscheidungsträger zu stützen und in kritischer Distanz an ihrer Seite zu stehen. Denn dem Staat und der Kirche sind die gleichen Menschen anvertraut. Die Verantwortung ist zum großen Teil geteilt.

Frage: Plädieren Sie damit nicht für eine sehr unpolitische Kirche?

Wilmer: Ich plädiere damit sogar für eine sehr politische Kirche. Kirche muss politisch sein, denn das Evangelium ist politisch. Wir sollten zu den Regierenden eine konstruktiv-kritische Distanz haben. Das heißt nicht, dass wir zu allem Ja und Amen sagen. Das heißt aber schon, dass wir zunächst ein grundsätzliches Vertrauen den Regierenden gegenüber haben. Unsere Rolle ist dabei, das Evangelium Jesu Christi hochzuhalten und einen Blick für jene zu haben, die dort im Zentrum, in unserer Gesellschaft aber am Rande stehen. Wir sollten nicht nur an die Vernunft, sondern auch das Herz appellieren.

Frage: Wenn Sie aus dieser Perspektive auf das Sondierungspapier schauen, haben Sie dann ein gutes Gefühl für die Zukunft Deutschlands?

Wilmer: Wir leben weltweit in einer Dynamik, in der die Starken tun, was sie können und die Schwachen erleiden, was sie müssen. Das ist fatal. Wenn dann reiche Länder wie Deutschland in erster Linie nur an sich selbst denken, dann geht das so nicht. Niemand kann sich allein retten, weder Deutschland noch Europa.

Bild: ©picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte

"Unser Herz ist groß, aber unsere Kräfte sind begrenzt", sagt Wilmer zur Migrationspolitik.

Frage: Das heißt, wenn in der Migrationspolitik nun Schutzsuchende generell an den Grenzen abgewiesen werden sollen, ist das der falsche Weg?

Wilmer: Ich maße mir bei diesem komplexen Thema nicht an, ein Urteil zu fällen. Nur so viel: Unser Herz ist groß, aber unsere Kräfte sind begrenzt. Die realen Möglichkeiten darf man nicht aus dem Blick verlieren. Auch Jesus hat nicht allen geholfen. Er ist auf kranke Menschen, Menschen mit Behinderungen und Wunden zugegangen – aber nicht auf alle. Er hat sich immer wieder zurückgezogen, um Kräfte zu bündeln und Ruhe zu finden, für das Gebet und die Kontemplation. Er hatte alle im Blick, aber er hat nicht für alle eine Lösung gehabt.

Frage: Jesus hat aber auch gesagt, dass Reiche im Idealfall ihr ganzes Hab und Gut für die Allgemeinheit einsetzen sollten. Von mehr Abgaben für Superreiche etwa ist aber momentan nicht die Rede. Sehen Sie da ein Missverhältnis?

Wilmer: Es gibt weltweit acht Milliarden Menschen, acht Menschen weltweit besitzen allerdings mehr Kapital als vier Milliarden Menschen – das ist ein enormes Missverhältnis, das es so in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat. Das muss angegangen werden. Wohlhabende und Reiche haben eine Verantwortung für die Schwachen und die Schwächsten, die deutlich über jener der restlichen Bevölkerung liegt.

Frage: Wie bringt sich da die Kirche angesichts schwindender Gläubigenzahlen und Ressourcen ein?

Wilmer: Die Zukunft der Kirche wird an der Gerechtigkeit und an der Spiritualität gemessen. Das Leitmotiv der jüdisch-christlichen Tradition ist bis heute aktuell: "Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist / und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben / und achtsam mitgehen mit deinem Gott." (Mi 6,8) Wir müssen mit prophetischer Stimme gegen die Ungerechtigkeit einstehen, im öffentlichen Diskurs wie auch in unserem karitativen und diakonischen Handeln ganz konkret. Aber wir sind keine NGO und kein humanistischer Weltverband. Unser Fundament als Kirche ist die Frage nach Gott. Wie gelingt es uns, diese Welt mit den Augen und dem Herzen Gottes zu betrachten? Die Menschen fragen uns nach Trost, Hoffnung, Zuversicht, dem Leben nach dem Tod, dem Himmel, der Vergebung der Schuld und Umgang mit Versagen.

Frage: Besteht da nicht die Gefahr, sich zwischen Sozialverband und vergeistigtem Elfenbeinturm im politisch Ungefähren zu verlieren?

Wilmer: Das Gegenteil ist der Fall. Wir betrachten von Gott kommend die Menschen, mit einer Energie und einer Leidenschaft, die kein Ende kennt. Wir leben die Inkarnation, die Wirklichkeit steht also über der Idee: Anpacken ist besser als reden.

Von Christoph Paul Hartmann