Mertes: Nicht vorschnell auf Einrede der Verjährung verzichten
Das Erzbistum Köln verzichtete auf die Einrede der Verjährung – und ermöglichte damit ein Urteil des Landgerichts Köln, das seither als wegweisend gilt. Ein ehemaliger Messdiener erhielt 300.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, weil er als Kind von einem Priester der Diözese sexuell missbraucht wurde. Das Gericht begründete sein Urteil unter anderem mit einer Amtshaftung der Erzdiözese für die Straftat des Priesters.
Ebenfalls konfrontiert mit solchen Schmerzensgeldklagen hat die Diözese Aachen in zwei von drei Fällen und das Bistum Hildesheim in einem Fall nicht auf die Einrede der Verjährung verzichtet. Was zu Protesten von Betroffenenverbänden und anderen führte. Das Bistum Essen wiederum verzichtete im November 2024 auf die Einrede. Andere Bischöfe erklärten zwischenzeitlich, sie wollten eine etwaige Entscheidung vom Einzelfall abhängig machen.
Kritik: Vorschnelle Festlegung
Im November fasste das Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) einen einstimmigen Beschluss, demzufolge Bistümer und Orden grundsätzlich auf die Einrede der Verjährung verzichten sollten. Sie dürften sich nicht aus der Verantwortung stehlen. In einem Aufsatz für die "Stimmen der Zeit" (April-Ausgabe) kritisiert Klaus Mertes diese Festlegung als vorschnell.
"Eine ernsthafte, gar kontroverse Debatte über Sinn und Unsinn der Einrede der Verjährung scheint nicht stattgefunden zu haben", so der Jesuit, der 2010 als Leiter des Berliner Canisius-Kollegs die Debatte über Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland in Gang brachte. Leider habe das ZdK auch keinen strategischen Blick über die binnenkirchliche Perspektive hinaus geworfen.
Das Kölner Urteil mit dem Betrag von 300.000 Euro Schmerzensgeld für ein nachgewiesenes, gerichtlich geprüftes und festgestelltes Tatgeschehen hätte, so Mertes, die Wucht gehabt, eine gesellschaftliche Debatte über die Einrede der Verjährung auszulösen. Doch "Politik und Medien schwiegen und schweigen weiter zu dem Thema". Zugleich sei das Kölner Urteil unter Juristen umstritten. Und weil das Erzbistum Köln darauf verzichtete, in Revision zu gehen, blieben Fragen offen.

Wie viel Geld sollen Missbrauchsbetroffene bekommen? Darüber wird in der Kirche diskutiert.
Bislang sei noch unklar, ob das Urteil die Rechtsprechung verändere und es in vergleichbaren Fällen zu ähnlichen Zahlungen komme, auch für nicht-kirchliche Institutionen. Ein Spezialrecht für die katholische Kirche wäre unangemessen und würde laut Mertes "neue Ungerechtigkeiten schaffen". Selbst wenn die katholische Kirche bei zivilrechtlichen Klagen grundsätzlich auf die Einrede der Verjährung verzichtete, müssten öffentliche Gerichte doch nach verallgemeinerbaren Kriterien entscheiden.
Derweil entschied die katholische Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) an Betroffene von Missbrauch, sich weiterhin mit Einzelfallentscheidungen am oberen Rand der weltlichen Rechtsprechung zu halten. Was sie getan hat; in mehreren Fällen verpflichtete sie inzwischen Orden und Diözesen zu Zahlungen in sechsstelliger Höhe: bis zu 300.000 Euro und darüber hinaus. Auch darin sieht Mertes eine Schwierigkeit.
Zahlungen wie ein Schuldspruch
Zahlungen in dieser Höhe kämen einem Schuldspruch der beschuldigten Person gleich. Dabei beruhe das UKA-Verfahren auf besonderen Kriterien von Glaubwürdigkeit: Man glaubt Betroffenen auch dann, wenn sich die Tat nach juristisch streng angewandten Kriterien nicht mehr beweisen lässt. Etwa wenn der Beschuldigte gestorben ist. Zahlungen in der genannten Höhe aber veränderten diesen Rahmen.
Mit seiner Weigerung, von vornherein auf die Einrede der Verjährung zu verzichten, stieß das Bistum Hildesheim auf erhebliche Kritik. Wieder einmal mache die Kirche deutlich, dass es ihr um Eigenschutz und nicht um das Wohl des Betroffenen gehe, so der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth.
Mit dem Antrag auf Abweisung der Schmerzensgeldklage von 400.000 Euro und die Einrede der Verjährung, erklärte dagegen die Diözese, wolle man seine Rechte als Prozesspartei nach der Zivilprozessordnung wahren. Zugleich vertrete sie die Auffassung, dass keine Amtshaftungsansprüche bestünden, die durch den Kläger geltend gemacht werden könnten. Über diese Rechtsfragen müsse das Gericht entscheiden. Dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer ging es um eine staatlich-gerichtliche Klärung.
„Zur Gerechtigkeit gehören auch gerechte Verfahren.“
Mertes weist darauf hin, dass die Einrede der Verjährung von Beginn der öffentlichen Debatte 2010 an präsent gewesen sei. Im Sommer 2010 habe sich auch Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die mit dem damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, aneinander geraten war, bereits kritisch dazu geäußert, generell auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Auch bei einer Veranstaltung der Bundespressekonferenz Mitte Januar ging es laut Mertes um eine Petition "Keine Einrede der Verjährung in Schmerzensgeldprozessen", die von Matthias Katsch (Eckiger Tisch) und Astrid Mayer (Aktionsbündnis der Betroffeneninitiativen) vorgestellt wurde. Dabei äußerte sich auch die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, kritisch zu einer auch nur vorübergehenden Aussetzung der Einrede.
Im Grunde, so Mertes' Fazit, gehöre das Thema vor den Bundestag, "um dort mit dem gleichen Ernst debattiert zu werden wie die Verjährung von Mord in den 1970er-Jahren". Für erwägenswert hält er Überlegungen, für die "Entschädigung von Betroffenen eine Stiftung einzurichten, entsprechend dem Vorbild der Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern (Stiftung EVZ – Erinnerung Verantwortung Zukunft)".
Solange jedoch solle die katholische Kirche erst einmal einheitlich regeln, "in welchen Fällen sie die Einrede der Verjährung aussetzt und in welchen Fällen nicht". Sonst, so Mertes weiter, entstehe der Eindruck, "dass in Köln andere Kriterien gelten als in Aachen, oder schlimmer noch: dass in reichen Bistümern und Orden je nach Kassenlage andere Kriterien gelten als in armen". Es gehe "nicht um die Frage nach Geld, sondern um die Frage nach Gerechtigkeit, und zur Gerechtigkeit gehören auch gerechte Verfahren".