"Keine eigene starke Überzeugung auf Zukunft hin"

Soziologe Joas: Die Kirchen in Deutschland strahlen nicht

Veröffentlicht am 26.03.2025 um 10:24 Uhr – Lesedauer: 5 MINUTEN

Hannover ‐ Als erstes Bundesland nach 1945 schloss Niedersachsen Verträge mit den Kirchen. Bei einer Feier zum 70- bzw. 60-jährigen Bestehen der Abkommen lobten beide Seiten die Zusammenarbeit. Die Kirchen wurden aber auch gemahnt.

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Gute Verträge und Kooperation mit dem Staat reichen nach Ansicht des Soziologen Hans Joas für Religionsgemeinschaften nicht aus, damit diese vital bleiben. "Die Kirchen in Deutschland strahlen nicht, haben keine eigene starke Überzeugung auf Zukunft hin", mahnte Joas am Dienstagabend bei einem Festakt in Hannover. Anlass waren das 70-jährige Bestehen des Staatskirchenvertrags zwischen Niedersachsen und den evangelischen Kirchen sowie die Unterzeichnung des Konkordats des Landes mit dem Vatikan vor 60 Jahren.

Der Loccumer Vertrag der niedersächsischen Landesregierung mit den fünf evangelischen Landeskirchen vom 19. März 1955 sei der erste Staatskirchenvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen und damit Vorbild für spätere Verträge, lobten Ministerpräsident Stefan Weil (SPD) und Oldenburgs evangelischer Bischof Thomas Adomeit. Ebenso war das Niedersachsen-Konkordat vom 26. Februar 1965 der erste derartige Vertrag mit dem Vatikan in der Bundesrepublik Deutschland, wie der päpstliche Botschafter Nikola Eterovic erklärte.

Weil: Bauen weiter auf Partnerschaft mit Kirchen

Die Abkommen regeln die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Staat und Kirche bei deren verfassungsmäßiger Trennung. Dies betrifft Bereiche wie Religionsunterricht, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen, Einzug der Kirchensteuer und weiteres. Beide Verträge, so Weil, hätten die Verhältnisse "lange und gut geregelt". "Wir werden auf diese Partnerschaft weiter bauen müssen, vor allem um der Würde der Menschen willen", mahnte der Ministerpräsident.

In seinem Vortrag "Ist die Säkularisierung unaufhaltsam?" sprach Joas über den Bedeutungsverlust von Kirchen und Religion in Deutschland. Entscheidend für die Frage, ob jemand aus einer Kirche austrete oder in diese eintrete, seien weniger einzelne Glaubenssätze oder persönliche Spiritualität. Wichtig seien vor allem politische Spannungsfelder und die Position der Kirchen darin.

Geschlechtergerechtigkeit als dringliche Frage

So sei der Katholizismus in Polen und Irland im 19. Jahrhundert vor allem gekräftigt worden, weil die Kirche die nationale Identität zu ihrem Anliegen gemacht habe. Und während in England die Arbeiterschaft sich durch die methodistische Kirche vertreten fühlte, hätten sich Arbeiter in Deutschland von den Kirchen abgewandt, weil diese zu stark mit staatlichen und wirtschaftlichen Dynastien verbunden waren. Heute etwa werde Geschlechtergerechtigkeit als ein dringliches politisches Spannungsfeld empfunden.

Insgesamt, so schloss Joas, sei die Welt in den vergangenen Jahrzehnten religiöser geworden. Die entscheidende Front in Europa verlaufe weniger zwischen Religion und Nicht-Religion, sondern zwischen moralischem Universalismus und Partikularismus – also ob die Kirchen selbstbezogen seien oder sich universal ausrichten. (KNA)