Netzwerk nennt seine Aktion "Conclave Watch"

Missbrauchsbetroffene zeigen Kardinäle an – was könnte folgen?

Veröffentlicht am 04.04.2025 um 00:01 Uhr – Von Roland Juchem und Severina Bartonitschek (KNA) – Lesedauer: 7 MINUTEN

Vatikanstadt/Osnabrück ‐ Mit einer öffentlichkeitswirksam vorgestellten Anzeige gegen prominente Kurienchefs wollen Missbrauchsbetroffene dem Vatikan weiter Druck machen, Vertuschung zu ahnden. Damit zielen sie auch auf mögliche Nachfolger von Franziskus.

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Fünf Leiter von Kurienbehörden und ein lang gedienter Erzbischof, allesamt Kardinäle, in Medien als mögliche Papst-Kandidaten gehandelt – und nun wegen unsachgemäßen Umgangs mit Missbrauchsfällen angezeigt: Péter Erdö, Kevin Farrell, Víctor Fernández, Mario Grech, Robert Prevost und Luis Tagle. Übergeben wurden entsprechende, weitgehend gleichlautende Schreiben mit jeweils detaillierten Vorwürfen am Mittwoch vergangener Woche an Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin.

Absender ist Snap, das "Survivors Network of those Abused by Priests". Das "Netzwerk von Überlebenden, die von Priestern missbraucht wurden", wurde 1989 in den USA gegründet und ist weltweit vernetzt. Am Dienstag zuvor bereits hatte Snap seine Aktion Medienvertretern vorgestellt. Die Organisation beruft sich auf das Motu Proprio "Vos estis lux mundi" (Ihr seid das Licht der Welt) von Anfang Mai 2019. Der Erlass, einige Wochen nach dem vom Papst einberufenen weltweiten Anti-Missbrauchsgipfel veröffentlicht, stellte erstmals den Versuch der Vertuschung von Straftaten auch im Kirchenrecht unter Strafe.

Berufung auf Medienberichte

Diesem Gesetz zufolge kann "jeder" im Vatikan Anzeige erstatten, der Kenntnisse über Straftaten im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch durch Kleriker erhält. Strafbar im Sinne dieses Gesetzes sind laut Artikel 1b auch Handlungen oder Unterlassungen, "die zivile oder kirchenrechtliche Untersuchungen verwaltungsmäßiger oder strafrechtlicher Natur" gegenüber einem Kleriker oder einer Ordensperson "beeinflussen oder umgehen", wenn es um sexuellen Missbrauch oder Kinderpornografie geht.

In ihrer Anzeige beruft Snap sich überwiegend auf Medienberichte. In denen wird dargelegt, dass die genannten Kardinäle in ihrer Zeit als Bistumsleiter sexuellen Missbrauchsvorwürfen gegen Priester und Kirchenmitarbeiter nicht zügig oder umfassend genug nachgegangen seien, die mutmaßlichen Täter nicht hart genug bestraft oder sich unsensibel gegenüber Opfern und Angehörigen verhalten hätten. Unterzeichnet sind die Briefe von den Snap-Vorstandsmitgliedern Shaun Dougherty, Peter Isely und Sarah Pearson.

Petersdom von einer Tiberbrücke aus
Bild: ©adobestock/TxemaPhoto (Symbolbild)

Snap betuft sich auf die Regelungen des Motu Proprio "Vos estis lux mundi". Darin wird erstmals der Versuch der Vertuschung von Straftaten auch im Kirchenrecht unter Strafe gestellt.

Im einzelnen geht es bei Kardinal Péter Erdö (72), dem Erzbischof von Esztergom-Budapest, um einen Kleriker sowie mutmaßliche Vorkommnisse in den 1990er Jahren sowie Meldungen an Verantwortliche in den Jahren 2003 und ab 2015 um kirchliche Maßnahmen. Dem Präfekten des Dikasteriums für Laien, Familie und Leben, Kevin Farrell (77), wirft Snap Macht- und Amtsmissbrauch in dessen Zeit als Bischof von Dallas (2007-2016) vor. So habe Farrell zwar Beschuldigte aus dem Amt entfernt, aber Öffentlichkeit und Justizbehörden ungenügend informiert.

Kardinal Fernández (62) wird fehlerhaftes und unsensibles Handling in Fällen von vier Klerikern vorgeworfen. Dabei geht es um den Zeitraum von Mitte der 1990er bis Anfang der 2020er Jahre. Kardinal Grech (68), seit 2020 Generalsekretär der Bischofssynode, soll als Bischof von Gozo/Malta unter anderem einen Priester zu spät über dessen Entlassung aus dem Klerikerstand informiert und zuvor Vorwürfe zwar kirchlich untersucht, aber nicht an Behörden weitergegeben haben. In einem anderem Fall geht es um Misshandlungen durch zwei Ordensfrauen in einem Kinderheim, die schleppend, intransparent und unsensibel untersucht und behandelt worden seien.

Kirchlicher Amts- und Machtmissbrauch

Kardinal Robert Prevost (69), seit 2023 Leiter der Bischofsbehörde, als früherem Generaloberer der Augustiner in Chicago/USA sowie als Bischof im peruanischen Chiclayo wird wie den anderen Kardinälen kirchlicher Amts- und Machtmissbrauch vorgeworfen, der bei Gläubigen Ärgernis erregt habe. Dies verstoße gegen Kanon 1378 des Allgemeinen Kirchenrechts, so Snap. Im Einzelnen geht es um Vorkommnisse aus den 1990er Jahren in Chicago sowie Meldungen und kirchliche Maßnahmen ab 2000.

Bei Kardinal Luis Tagle (67), Pro-Präfekt des Evangelisierungsdikasteriums, geht es um zwei Fälle. So soll er, 2015 zum Leiter von Caritas internationalis ernannt, den Fall eines in Belgien wegen Missbrauchs verurteilten Klerikers, der zwischenzeitlich Caritas-Direktor in der Zentralafrikanischen Republik geworden war, falsch behandelt und zu spät reagiert haben. In einem zweiten Fall geht es um einen früheren neuseeländischen Bischof, in dem Tagle als Chef der vatikanischen Missionsbehörde nicht regelkonform reagiert habe.

Víctor Manuel Fernández
Bild: ©KNA/Cristian Gennari/Romano Siciliani

Kardinal Fernández hatte schon vor seiner Ernennung zum Glaubenspräfekten den Papst über Vertuschungsorwürfe gegen ihn informiert.

Da einige der adressierten Dikasteriumsleiter selbst angezeigt werden, habe man es für angebracht gehalten, die Schreiben an Kardinalstaatssekretär Parolin zu richten und ihn zu bitten, diese entsprechend weiterzuleiten, sagte Snap-Vorstandsmitglied Pearson der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Zudem habe man so "die Absurdität der Situation" zeigen wollen: Schreiben an Kuriale zu richten, die wiederum selbst angezeigt würden.

Das Snap-Netzwerk stellte seine Aktion unter die Überschrift "Conclave Watch". Neben dem Anliegen, Gerechtigkeit zu erlangen, gehe es auch darum zu verhindern, dass "jemand zum Papst gewählt wird, der sexuellen Missbrauch vertuscht hat", so Pearson. Darüber hinaus plant Snap eine öffentlich zugängliche Datenbank mit weiteren Namen, Anschuldigungen, Aussagen von Opfern und deren Anwälten sowie Berichten über den Fortgang der geforderten Untersuchungen im Vatikan.

Erlass gilt nicht rückwirkend

Idealerweise würde "ein wirklich unabhängiger Ermittler mit den Vorwürfen betraut", dem sämtliche Dokumente und Beweise zur Verfügung stünden und alle beteiligten Amtsträger zur Aussage verpflichtet wären, so Pearson. Die Ergebnisse sollten öffentlich zugänglich gemacht werden und in erwiesenen Fällen zu einer Amtsenthebung führen.

Ob tatsächlich etwas geschieht, hängt aber allein vom Papst ab. Nach Aussage von Kirchenrechtsexperten zieht die Berufung auf "Vos estis lux mundi" juristisch nicht: der Erlass von 2019 gilt nicht rückwirkend. Ein jüngst bekannt gewordenes Schreiben des Dikasteriums für Gesetzestexte zur Veröffentlichung von Namen gestorbener Beschuldigter wies ebenfalls auf den Grundsatz der Nichtrückwirkung hin, "wonach man nicht für ein Verhalten verurteilt – und folglich auch nicht angeklagt – werden kann, das zum Zeitpunkt seiner möglichen Begehung formal gesehen keine Straftat darstellte." Dies gelte etwa auch "bei der sogenannten Unterlassung von allgemeinen Sorgfaltspflichten".

Bild: ©KNA (Symbolbild)

Ist eine Untersuchung unter Bezug auf ältere kirchenrechliche Bestimmungen möglich?

Allerdings könne der Papst Untersuchungen dennoch anordnen, sagte ein Kurienmitarbeiter der KNA. Ob Franziskus dies tut, ist offen. Immerhin sind mit Fernández, Grech und Prevost einige seiner engsten Vertrauten und mit Tagle und Farrell weitere wichtige Kurienchefs betroffen. Fernández selbst hatte schon vor seiner Ernennung zum Präfekten den Papst über Vorwürfe gegen ihn, vertuscht zu haben, informiert.

Franziskus ernannte ihn dennoch, entband ihn aber von der Zuständigkeit für Vorwürfe, Anzeigen, Anklagen und Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Diese Aufgabe nimmt der Sekretär für die Disziplinarsektion wahr, Erzbischof John Kennedy. Ob Kennedy im Fall einer etwaigen Anordnung des Papstes die Vorwürfe gegen Fernández und die anderen Kurienchefs untersuchen würde – eventuell unter Bezug auf ältere kirchenrechtliche Bestimmungen wie Kanon 1378 CIC, ist völlig offen.

Vorwürfe an Papst selbst

In einem weiteren Schreiben wandte sich Snap auch an den Papst selbst. Darin werfen sie Franziskus vor, als Erzbischof von Buenos Aires habe er selbst Täter geschützt, versetzt oder Opfer und deren Angehörige nicht hören wollen.

Mit der Begründung einen mutmaßlichen Missbrauchstäter oder -vertuscher auf dem Papstthron zu verhindern, hatten vor Jahren bereits konservative Katholiken in USA einen "Red Hat Report" angekündigt. Dieser sollte – laut Medien sogar mit Hilfe von FBI-Erkenntnissen – Kardinäle durchleuchten, die als Papst-Kandidaten gehandelt werden. Allerdings mutmaßten Kritiker damals, der Red-Hat-Report solle vor allem progressive Purpurträger identifizieren, um einen zweiten vermeintlich linken Papst wie Franziskus zu verhindern.

Ein Anlass damals war der Fall des früheren US-Kardinals Theodore McCarrick. Auf Vorwürfe von Missbrauch und Vertuschung, die der frühere Washingtoner Nuntius und später exkommunizierte Erzbischof Carlo Maria Viganò im August 2018 veröffentlichte, reagierte der Vatikan 2019 mit einem umfangreichen Dossier – und der Entlassung McCarricks aus dem Klerikerstand.

Von Roland Juchem und Severina Bartonitschek (KNA)