Missbrauchsgutachten für das Bistum Würzburg: 51 Täter, 226 Betroffene
Ein am Dienstag vorgestelltes Missbrauchsgutachten für das Bistum Würzburg ist zu einem überraschenden Befund gekommen: Demnach waren nur 1,1 Prozent der Geistlichen mutmaßliche Straftäter. Vergleichbare Studien im In- und Ausland gehen dagegen von 4 bis 5 Prozent aus.
Der Wiesbadener Rechtsanwalt Hendrik Schneider sagte, die Unabhängige Aufarbeitungskommission im Bistum Würzburg habe sich bei seiner Beauftragung für einen engen Täterbegriff entschieden. Erfasst worden seien nur strafrechtlich relevante Handlungen an Minderjährigen, wenn es einen hinreichenden Verdacht gab. Andere Grenzverletzungen unterhalb dieser Schwelle, wie sie etwa die bundesweite MHG-Studie 2018 berücksichtigt habe, seien dadurch außen vor geblieben.
"Nur die Spitze des Eisbergs"
Der Würzburger Psychosomatiker Marcel Romanos, Mitglied der Aufarbeitungskommission, sagte, alle seien sich bewusst, "dass die Dunkelziffer viel größer ist". Das gelte auch für das Spektrum von sexueller Gewalt und Machtmissbrauch. Das Gutachten spiegle nur "die Spitze des Eisbergs". Durch den Zuschnitt der Fragestellung sei aber klarer geworden, welche notwendigen Schritte von der Kirche eingeleitet oder eben unterlassen worden seien.
Schneider ermittelte nach dieser Maßgabe für die Zeit von 1945 bis 2019 insgesamt 51 Beschuldigte, darunter 43 Geistliche. In der MHG-Studie ist bezogen auf das Bistum Würzburg von 62 beschuldigten Priestern und Diakonen die Rede, außerdem von 157 Betroffenen. Hier ist die Zahl des neuen Gutachtens mit 226 Betroffenen deutlich höher.
Vollständiges Gutachten
Das vollständige Missbrauchsgutachten für das Bistum Würzburg und die Empfehlungen der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sind im Internet abrufbar.
Der Anwalt resümierte, bis etwa zur Jahrtausendwende habe auch im Bistum Würzburg im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen der Schutz der Institution Vorrang gehabt. Nur ein Bruchteil der Täter sei verurteilt worden.
Ab etwa dem Jahr 2000 habe allmählich ein Paradigmenwechsel zu einer Kultur des Hinsehens eingesetzt. Durch die MHG-Studie und den Amtsantritt von Bischof Franz Jung 2018 habe dieser einen weiteren Schub erfahren. Seither würden etwa alle Verdachtsmomente der Staatsanwaltschaft zur Prüfung übergeben.
Bischof ringt bei Übergabe um Fassung
Jung nahm das Gutachten entgegen und rang dabei um Fassung. Er halte nun "ein Dokument des Leids der Betroffenen und unseres Versagens als Kirche" in Händen. Der Bischof würdigte die Arbeit als "Meilenstein" der Aufarbeitung und kündigte Konsequenzen an. Kommenden Montag will er sich nach Lektüre der rund 800 Seiten eingehender dazu äußern.
Die Würzburger Aufarbeitungskommission empfiehlt der Bistumsleitung vor allem, Ehrenamtliche stärker in den Blick zu nehmen. In den vergangenen Jahren hätten sich die Meldungen von Verdachtsfällen zunehmend von Geistlichen auf Ehrenamtliche verschoben, sagte Romanos. Er regte an, im Bistum tätige Ehrenamtliche vollständig zu erfassen und von ihnen polizeiliche Führungszeugnisse zu verlangen.

Der Bischof würdigte die Arbeit als "Meilenstein" der Aufarbeitung und kündigte Konsequenzen an.
Besonders in Pfarrgemeinden gebe es Widerstände gegen Schutzkonzepte, die aufgebrochen werden müssten, mahnte der Professor. Die derzeit 48 Präventionsberater im Bistum bräuchten Verstärkung und mehr Befugnisse. Außerdem müsse der Bischof sicherstellen, dass die Präventionsmaßnahmen über seine Amtszeit hinaus Bestand hätten.
Betroffeneninitiative befürchtet "Zeit des Kleinredens"
Aus Sicht der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch bedürften die Schlussfolgerungen des Gutachtens einer weiteren Überprüfung. So sei etwa unklar, ob die Untersuchung überhaupt über die schon in der MHG-Studie gesichteten Personalakten hinausging, sagte der Sprecher der Initiative, Matthias Katsch, auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Die Zahl der möglichen Betroffenen und der Täter ist sicher höher als durch die Auswertungen von Personalakten zu ermitteln sein wird." Er schränkte allerdings ein, dass er das Gutachten bislang noch nicht vollständig gelesen habe.
Laut Katsch deute die neue Veröffentlichung dennoch in eine besorgniserregende Richtung für Betroffene. "Aus den bisher bekannt gewordenen Schlussfolgerungen des Gutachtens befürchten wir, dass nach Jahren von Verzögerungen und des Verschleppens jetzt die Zeit der Relativierungen und des Kleinredens gekommen ist."
Leid hat viele nicht berührt
Der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller erklärte, wenn der Bericht dazu beitrage, das Leid der Betroffenen zu würdigen und ihre Wunden zu heilen, habe dieser seinen wichtigsten Auftrag erfüllt. Wenn er selbst auf die Jahrzehnte zurückschaue, in denen er sich mit sexualisierter Gewalt in der Kirche befasst habe, bleibe ein schales Gefühl. Das Leid und die Tränen der Betroffenen habe das Herz vieler in der Kirchen, auch jener, die dort eine besondere Verantwortung hätten, "nicht so tief berührt, dass sie dadurch ihr vergangenes Verhalten in Frage stellen und ihr augenblickliches und zukünftiges Verhalten davon bestimmen lassen".
Viel Leid der Betroffenen hätte auch in der Diözese Würzburg vermieden werden können, wäre man früher auf die Betroffenen zugegangen und hätte man auf jene gehört, die auf Missstände aufmerksam machten, erklärte Müller. Die Glaubwürdigkeit der Kirche im Bistum Würzburg wären nicht so stark beschädigt worden. Bischof Franz Jung und seine Mitarbeiter hätten gezeigt, dass es anders gehe. Müller war von 1991 bis 2016 Leiter des Recollectio-Hauses in Münsterschwarzach. Die Einrichtung kümmert sich um körperlich und psychisch angeschlagene Priester, Ordensleute und Mitarbeiter in der Seelsorge. (mtr/KNA)
8.4., 17:34 Uhr: Ergänzt um Reaktionen der Betroffeneninitiative und des Theologen Müller.