Warum Stalingrad?
Die Geschichtsbücher sind schnell gewälzt: Hitler wollte also zu den Ölfeldern im Kaukasus vordringen, Stalingrad – das heute übrigens Wolgograd heißt – erschien ihm als idealer Brückenkopf: zwei Flugplätze, ein Hafen und mittelbarer Zugriff auf die Nachschubwege der russischen Armee. Also schickte er die 6. Armee, verstärkt durch italienische, rumänische, kroatische und ungarische Kampfverbände. Gleich am ersten Tag, dem 23. August 1942, warf die deutsche Luftwaffe mehr als eine Millionen Bomben auf die Stadt.
"Man verblödet hier"
Im November nahm die Wehrmacht eine völlig zerstörte Stadt ein. Doch der Gegenschlag der Roten Armee ließ nicht lange auf sich warten: Wenige Wochen später war die sechste Armee eingekesselt, die Luftversorgung funktionierte hinten und vorne nicht. Es folgte eine der zermürbendsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, von der nur 5.000 deutsche Soldaten heimkehrten. Und der Historiker Jochen Hellbeck schätzt, dass nach der Schlacht noch 8.000 Menschen in der Stadt lebten – zuvor waren es knapp eine halbe Millionen. Doch Stalin hatte verboten, die Stadt zu evakuieren. Er rechnete damit, dass die Truppen niemals aufgeben würden, wenn noch Frauen und Kinder in der Stadt sind. Starke Zahlen, aber auch nicht beeindruckender als der neue Tarantino-Film, bei dem das Blut fast von der Leinwand tropft. Und eines weiteren Beweises, dass Adolf Hitler ein Sadist war, hätte es nun wirklich nicht bedurft.
„Stumpf sitzt man hier im Bunker und wartet, worauf? Nur Galgenhumor und bissige Ironie bringt nochmal für kurze Zeit ein Lachen über das Gesicht.“
Also der nächste Schritt: Feldpostbriefe aus Stalingrad. Die richtigen, nicht die Ausgabe von 1954. Die „Letzten Briefe aus Stalingrad“ stehen noch immer in dem Ruf, dass die Texte erfunden, manipuliert oder wenigstens gezielt einseitig ausgewählt wurden. Also die Edition von Jens Ebert, der 2001 mit Hilfe des Deutschlandfunks Briefe gesammelt und herausgegeben hat. Da zeigt sich erstmals, worum es in Stalingrad wirklich ging, nämlich nicht um Ölfelder und Truppenbewegungen, sondern um Menschen. Die Soldaten schreiben vom Alltag an der Front: Von Erdlöchern, die sie mit Munitionskisten auslegen, damit sie nicht auf dem kahlen Boden schlafen müssen (Walter Krahe, 29. November 1942). Von Läusen, die sich hartnäckig einnisten, ein Problem, dass Max Breuer (1. November 1942) nur durch Rasur in den Griff bekommt. Und immer wieder ist von den kargen Rationen, mit denen sich die Soldaten verpflegen müssen, die Rede. Es war ein trister Alltag: „Man verblödet hier, ohne Nachrichten, keine Post, nicht eine Zeitung und wäre sie einen Monat alt. Stumpf sitzt man hier im Bunker und wartet, worauf? Nur Galgenhumor und bissige Ironie bringt nochmal für kurze Zeit ein Lachen über das Gesicht.“ (Karl Kaufmann, 7. Dezember 1942)
Menschen, keine Ressourcen
Nicht ganz 200 Seiten bis Weihnachten 1942. Es ist ein ganz anderer Krieg, wenn Zahlen plötzlich Namen bekommen. 2013 ist es relativ warm in Deutschland – wenigstens für Anfang Februar. Nicht minus 40 Grad, kein Schneesturm, keine Holzkiste mit Munition als einziger Stuhl, keine Stalinorgel, die durch die Nacht pfeift. Es ist nicht wie damals in Russland. Menschen sterben nicht mehr durch Kugeln und Bombeneinschläge – jedenfalls nicht in Europa.
Vier Dinge scheinen den Soldaten heilig: Ihre Feldpost, Ihre Tagesration, ihre Kameraden und die Heilige Schrift. Es fällt auf, wie viele sich in den dunklen Stunden an Gott klammern. Paul Gerhardt Möller wünscht sich zu Weihnachten einzig eine neue Hülle für seine Bibel. Es ist bewegend, wie Soldaten die Heilige Nacht herbeisehnen – eine Art ferner Ruhepol. Sie haben wenig und legen sich davon noch etwas zurück, um Weihnachten angemessen feiern zu können. Und immer wieder ist die Rede von der Stalingrad-Madonna.
Google zeigt ein beeindruckendes Bild, gezeichnet mit einem Stück auf die Rückseite einer Landkarte: "Licht, Leben Liebe – Weihnachten im Kessel". Der Maler ist Kurt Reuber, Theologe und Militär-Arzt. Es zeigt Maria mit Kind, vereint in inniger Umarmung, die Gesichter einander zugewandt, sanft hält Maria Jesu Kopf in der rechten Hand – beide sind von einem riesigen Gewand umschlungen, das wie ein riesiger Heiligenschein wirkt. Reuber hat das Bild für seine Kameraden gemalt; es hing im Bunker, in einer dunklen Nische, angeleuchtet von ein paar Kerzen. Maria zeigt sich barfuß, ein Zeichen dafür, dass die Mutter Gottes ganz unten angekommen ist – im Kessel, bei minus 40 Grad, irgendwo in Russland. Aus Briefen geht hervor, dass die Soldaten ganz ergriffen waren, als sie das Bild Weihnachten 1942 erblickt haben. Ein willkommener Trost in Zeiten des Krieges.
Kein Mitleid mit den Tätern
Stopp! Ist das nicht Trost am falschen Ort? Das sind doch Nazis. Es wäre fatal, wenn plötzlich aus Tätern Opfern werden und umgekehrt, schließlich hat die Wehrmacht während des Russlandfeldzugs ganze Dörfer zerstört, Unschuldige getötet und Frauen vergewaltigt. Die Positionen waren klar verteilt: Deutschland führte eine Angriffskrieg gegen Russland. Wird Religion da nicht missbraucht, das schlechte Gewissen in einem bestialischen Krieg ruhig zu stellen? Diese Menschen waren Verbrecher!
„Es ist ein Fehler, das Schlechte Gewissen, das wir heute quasi als selbstverständlich ansehen, in die Menschen von damals hineinprojizieren.“
Der Theologe und Kunsthistoriker Notger Slenczka unterbricht den Gedanken: "Es ist ein Fehler, das Schlechte Gewissen, das wir heute quasi als selbstverständlich ansehen, in die Menschen von damals hineinprojizieren. Viele Soldaten haben die schlechten Lebensumstände, das Leid und den Hunger der Bevölkerung nicht als unmittelbare Kriegsfolge betrachtet sondern dem Sozialismus und der Herrschaft Stalins zugeschrieben. Die Frage, ob diese Sicht zutreffend ist, ist eine ganz andere. Aber es hat viele Soldaten gegeben, die guten Gewissens Soldaten waren – auch in Stalingrad." Und trotzdem fällt es schwer, das Leiden der Soldaten in Stalingrad in die Schuldgeschichte des Nationalsozialismus einzufügen.
Wahrheit des Menschseins inmitten seiner Zerstörung
Der Theologe beschreibt Reuber als ausgemachten Gegner des Hitler-Regimes, der ein Auge für die Ambivalenz des Russlandfeldzuges gehabt hat. Mitunter deswegen meint Slenczka er auch eine zweite Ebene in der Stalingrad-Madonna ausgemacht zu haben: "In Briefen an seine Familie beklagt Reuber das Leid der Zivilbevölkerung. Er erzählt von Müttern, die um ihre Kinder bangen, und erkennt dies als zutiefst menschlichen Akt. Und gleichzeitig war er erschüttert, dass viele seiner Kameraden diese 'unzerbrechliche Macht der Liebe' gar nicht wahrnehmen." In einem anderen Brief schildert Reuber eine Szene, die einen tiefen Eindruck hinterlassen hat: Eine Mutter flieht mit ihrem todkranken Säugling. Er zeichnet die beiden und vergleicht sie mit der Heiligen Familie, die vor den Soldaten Herodes nach Ägypten floh. Es waren diese beiden Russen, die in Reubers Stalingrad-Madonna einflossen. "In diesem Sinne ist das Bild nicht nur Trost sondern auch eine Mahnung – eine Aufforderung an die Wehrmachtsoldaten, die bisher die Augen verschlossen haben und die Russen – gemäß der Propaganda im Dritten Reich – als Untermenschen ansahen." Slenczka sieht darum sozusagen einen Aufruf, das Wunder der Weihnacht – und somit das Wunder der Menschwerdung – auch in seinen Gegnern zu erkennen. "Die Stalingrad-Madonna ist sozusagen ein ohnmächtiges Zeugnis für die Wahrheit des Menschseins inmitten seiner Zerstörung."
Das beeindruckt dann doch: Zahlen, die zu Menschen werden und Menschen. Menschen, die in dunklen Stunden die Stärke aufbringen, ihren Feind als Ebenbild zu erkennen – und zu achten. Die Fähigkeit, wahres Heldentum vom falschen zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund ist Stalingrad wohl doch noch aktuell.
Von Michael Richmann