"Europa darf seine Seele nicht verlieren"
Frage: Erzabt Donato, Sie leiten eine der ältesten Abteien der westlichen Christenheit und eine der größten Abteien überhaupt. Was bedeutet das für Sie persönlich?
Ogliari: Für mich ist es eine große Ehre, hier am Grab unseres Ordensgründers dienen zu können. Das ist für das spirituelle Leben eine tägliche Bereicherung. Von hier gingen im Frühmittelalter entscheidende Impulse für die Christianisierung des Kontinents aus. Dann ist da die kulturelle Bedeutung der Abtei. Hier lagern einzigartige Kunstschätze. Die Bibliothek, das alte Archiv und das Abtei-Museum bergen Kulturwerte, die für das europäische Gedächtnis von größter Bedeutung sind. Das alles macht die Aufgabe hier oben zu etwas sehr Besonderem.
Frage: Vom christlichen Erbe des Kontinents wollen viele Europäer heute nicht mehr viel wissen.
Ogliari: Man hat sogar den Eindruck, dass die Säkularisierung der europäischen Gesellschaft seit den letzten Jahren galoppiert, aggressiver geworden ist. Inzwischen erfasst sie auch Länder, in denen der Glaube immer eine große Rolle spielte wie Irland und Polen. Wir müssen ganz nüchtern bekennen: Die frühere Verankerung des kirchlichen Lebens gibt es so in den europäischen Völkern nicht mehr.
Das Paradoxe daran ist, dass in Europa die christliche Religion im Namen einer individuellen Freiheit angegriffen wird, die ihre Wurzeln in eben dieser Religion hat. Die Aufklärung und die Idee der Freiheit des Individuums sind ja Kinder des Christentums. Das wird von den Vertretern des Relativismus gerne geleugnet. Wenn Europa jedoch zwischen diesen Werten und seiner Ursprungsreligion einen Gegensatz aufbaut, dann verliert es seine Seele.
Frage: Derzeit kommen Hunderttausende muslimische Flüchtlinge nach Europa. Mehr als 15 Millionen Muslime leben bereits hier. Was bedeutet das für den Alten Kontinent und wie sollte er darauf reagieren?
Ogliari: Die Migration aus islamischen Ländern wird für die europäische Identität zu einer enormen Herausforderung, das sollte man nicht unterschätzen. Die Antwort kann nur ein ernsthafter Dialog sein. Das heißt einerseits, Fremde offen und mit Respekt zu behandeln. Schon der heilige Benedikt hat sich damals nicht gescheut, auch einen Ostgoten in seine Gemeinschaft aufzunehmen, obwohl dieser Stamm unter den lateinisch gebildeten Mönchen geradezu als barbarisch galt. Jeden Menschen zu ehren, ist ein Gebot der benediktinischen Ordensregel. Andererseits kann der Dialog mit den Muslimen nur gelingen, wenn Europas Gesellschaften dabei selbstbewusst ihre Werte verteidigen. Und die sind - ob es einem gefällt oder nicht - nun mal christlich fundiert. Dialog bedeutet ja nicht, dem Anderen nach dem Mund zu reden.
Frage: Die Orden sind von der Glaubenskrise im Westen besonders betroffen. Nachwuchsmangel und Überalterung prägen hier das Bild. Wie sehen Sie die Zukunft der Orden?
Ogliari: Keinesfalls düster. Der fehlende Nachwuchs hängt auch damit zusammen, dass auch in katholischen Familien weniger Kinder geboren werden. Sicher, die Zeit der großen Klostergemeinschaften mit hunderten Mönchen ist wohl vorbei. In dieser gewaltigen Abtei sind es gerade noch 15. Die Form verändert sich also. Doch es wird immer Männer und Frauen geben, die sich dem Reich Gottes verschreiben. Sie sind ein prophetisches Zeichen für die Kirche.
Im Übrigen ist die Kirche ja immer weniger eurozentriert. Das Ordensleben findet heute genauso in Asien, Lateinamerika, Afrika statt. In diesen Gebieten ist der Nachwuchsmangel kaum zu spüren. Die Geschichte der Abtei Monte Cassino ist selbst das beste Beispiel dafür, dass es immer weiter geht. Viermal wurde sie zerstört, von Langobarden, Sarazenen, einem Erdbeben und 1944 von der US-Luftwaffe - und jedes Mal wurde sie wieder aufgebaut.
Frage: Das Bombardement im Zweiten Weltkrieg gilt als Symbol für sinnlose Zerstörung. War es ein Kriegsverbrechen?
Ogliari: Ja, ein Kriegs- und Kulturverbrechen. Die damaligen Alliierten sehen heute ein, dass es ein schwerer Fehler war. In Monte Cassino gab es keine deutschen Soldaten. Erst nach dem Angriff haben sie dann die Ruinen besetzt. Zum Glück retteten einige deutsche Offiziere einen Großteil der Kunstschätze vor den Bomben und brachten sie nach Rom. Dafür sind wir diesen Männern bis heute sehr dankbar.
Frage: Die Benediktiner gehen zurück auf die Wurzeln des abendländischen Mönchtums im 6. Jahrhundert. Die Regel "Ora et labora", bete und arbeite, war damals im ausgehenden Sklavenzeitalter eine Revolution. Doch worin besteht im 21. Jahrhundert die Faszination benediktinischer Spiritualität?
Ogliari: Ich glaube, dass der ganzheitliche Lebensansatz der Benediktiner immer seine Anziehungskraft behält. Zum Beten und Arbeiten kommt auch noch das Lesen, das Studium hinzu. Damit verbindet der benediktinische Weg also die geistlich-meditative Hinwendung zu Gott mit praktischer Lebensnähe und dem Ideal der Bildung. Es geht nicht um einen Rückzug hinter Klostermauern, sondern um aktives Teilnehmen an der Welt aus religiöser Überzeugung. Das hat die Kirche und die Gesellschaft insgesamt zu allen Zeiten bereichert.