Sternenkind-Mama: Es ist normal, fünfmal am Tag zum Friedhof zu fahren

Als ihr Sohn Emil am 15. November 2020 geboren wurde, konnten Kathrin und Stefan Theisen ihr Glück kaum fassen – sie sind zum ersten Mal Eltern geworden. Die beiden hielten ihren Sohn im Arm, kuschelten mit ihm. Die Geburt ist gut verlaufen, auch das Krankenhauspersonal war entspannt. Emil wurde gewogen, gemessen, gewaschen und angezogen – wie jedes Neugeborene. Alles war normal – und doch wieder nicht. Denn Emil war eine stille Geburt, das heißt, er ist tot auf die Welt gekommen. In den ersten zwei bis drei Stunden nach der Geburt habe das Glücksgefühl alle anderen Emotionen ausgelöscht, sagt Kathrin Theisen. "Irgendwann kam dann der Moment, in dem ich realisiert habe, dass er tot ist", sagt sie.
Sie forderten einen Priester an, um ihrem Sohn vielleicht noch die Nottaufe spenden zu lassen. Dieser erklärte den frischgebackenen Eltern, dass das nicht mehr möglich sei. Aber ein Segen – das würde gehen. "Wir waren froh über alles, was uns angeboten wurde", sagt die 36-Jährige. "Leider war der Priester überfordert mit der Situation. Man hat gemerkt, dass es ihm unangenehm war und für uns dementsprechend auch."
Die Trauer setze ein, als sie das Krankenhaus verließen
Ganz anders war es mit der Sternenkindfotografin, die noch im Krankenhaus Fotos von ihrem Sohn schoss. Sie brachte alles Notwendige mit: Anziehsachen – Sternenkinder sind oft viel kleiner als Neugeborene –, kleine Herzchen und Engel. "Die durften wir teilweise behalten oder später mit in den Sarg legen", erzählt Kathrin Theisen. "Sie hat uns da wirklich gut aufgefangen und durch die Situation geleitet", ergänzt ihr Ehemann. Beide sind dankbar, dass sie diese Momente festgehalten haben. "Die Kleinen verändern sich sehr schnell: die Gesichter werden maskenhaft, die Haut löst sich ab, sie werden sehr dunkel – da muss man sich fragen: Wie will ich mein Kind in Erinnerung behalten", sagt Kathrin Theisen.
Die Trauer setze ein, als sie das Krankenhaus einen Tag später verließen. "Wir haben ein Kind bekommen und fahren mit leeren Händen nach Hause", sagt Stefan Theisen. "Da fällt einem jeder Maxi-Cosi auf, der rausgetragen wird oder glückliche Großeltern, die mit Luftballons hereinspaziert kommen." Im Krankenhause seien sie wie in einer Blase gewesen, danach sei sie zerplatzt und die Gefühle überwältigten sie. "Die erste Woche war für mich am schlimmsten", sagt Kathrin Theisen. "Wir haben uns komplett isoliert und wollten niemanden sehen." Selbst von ihrem Mann brauchte sie ein paar Tage Abstand. "Ich musste das irgendwie für mich alleine klarkriegen."
Jeder Trauerprozess sei individuell und habe seine Daseinsberechtigung, sagt Kathrin Theisen.
Als Mutter habe sie der Verlust anders getroffen, sagt die Grundschullehrerin. "Man gibt seinen Körper für das Kind her, man ist der Schutzraum und wenn dann etwas passiert, wenn man das Kind nicht schützen konnte, dann fühlt man sich für den Verlust verantwortlich", sagt sie. Immer wieder habe sie sich die Frage gestellt, was sie falsch gemacht habe, was sie anders hätte machen können. "Ich glaube, das ist der Grund, warum Frauen oft mehr leiden als Männer."
Stefan Theisen ist in dieser Zeit in die Rolle des Organisators gesprungen. Bestatter, Friedhof, Beerdigung – darum kümmerte er sich. "Ich habe versucht, meiner Frau möglichst viel abzunehmen", sagt der 38-Jährige. Denn zur Trauer um seinen Sohn gesellte sich die Sorge um seine Frau: "Ich habe gesehen, wie sehr sie leidet." Also suchte er nach psychologischer Unterstützung. "In solchen Fällen kann man psychologische Soforthilfe bei den Schwangerschaftsberatungsstellen bekommen", sagt Kathrin Theisen. "Aber das mussten wir erstmal herausfinden." Die Begleitung in der Akutzeit hat beiden sehr geholfen. Kathrin Theisen suchte sich im Anschluss daran einen festen Therapieplatz.
"Nach dem Treffen habe ich eine ganz andere Frau vorgefunden"
Doch den entscheidenden Durchbruch brachte etwas anderes: "Ich wusste, dass eine ehemalige Kollegin von mir eine Totgeburt hatte." Obwohl die beiden Frauen zu dem Zeitpunkt keinen Kontakt hatten, schrieb Kathrin Theisen ihr eine Nachricht. Sie trafen sich und tauschten sich aus. "Nach dem Treffen habe ich eine ganz andere Frau vorgefunden", sagt Stefan Theisen. "Mir ist klargeworden, dass ich nicht verrückt bin", sagt seine Ehefrau, "dass es normal ist, sich Vorwürfe zu machen, dass es normal ist, fünfmal am Tag zum Friedhof zu fahren – dass das alles zum Trauerprozess dazu gehört." Das Gespräch mit ihrer ehemaligen Kollegin sei für sie heilsam gewesen, um mit den Gedanken und Emotionen nicht allein zu sein. "Dieses Gefühl konnte mir nur sie geben, weil sie das Gleiche durchgemacht hat, wie ich."
Nach dieser Erfahrung wuchs in Kathrin Theisen der Wunsch, anderen Müttern dieselbe Unterstützung zu bieten, die ihr selbst geholfen hatte. Sie wollte einen Ort schaffen, an dem Trauer, Austausch und Hoffnung Platz haben. Die Umsetzung musste zunächst warten – denn bald war sie erneut schwanger. Ein Jahr und zwei Tage nach der Geburt von Emil kam ihre Tochter zur Welt, zwei Jahre später ihr zweiter Sohn. Beide Schwangerschaften waren für Kathrin Theisen eine große Belastung. "Ich habe fast jeden Tag geweint, weil ich Angst hatte, dass etwas schief geht." Jeder Arztbesuch löste in ihr ein bedrückendes Gefühl aus: Was ist, wenn das Kind keinen Herzschlag mehr hat? "Ich habe das Vertrauen ins Leben verloren."
Kathrin und Stefan Theisen (l.); Eine Skulptur auf dem Sternenkinderfeld des Friedhofs in Daun (r.)
Und in Gott. "Kurz nach Emils Geburt war ich richtig wütend", sagt Kathrin Theisen. "Er hat mich im Stich gelassen, das hat mein ganzes Gottesbild über den Haufen geworfen." Doch auf ihren Spaziergängen kamen sie und ihr Mann immer wieder an einer kleinen Kapelle vorbei. Sie wurde für beide zu einem Anker: ein Ort der Ruhe und des Gebets. Sie fanden wieder Halt. Heute ist Kathrin Theisen wieder mit Gott versöhnt: "Er hat mir zwei gesunde Kinder geschenkt", sagt sie.
Weil die Trauer um Emil während der zweiten Schwangerschaft wieder sehr präsent war, erinnerte sich Kathrin Theisen an die Idee mit der Gesprächsgruppe für Sternenmütter. Gemeinsam mit einer Bekannten, einer ehemaligen evangelischen Pfarrerin, organisierte sie im Januar 2024 in den Räumen ihrer Hebamme das erste Treffen. Elf Frauen waren anwesend. "Das hat uns sehr deutlich gezeigt, wie wichtig dieses Angebot ist." Zwei Monate später kam eine Gruppe für Sterneneltern hinzu, damit auch Väter die Gelegenheit bekommen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
Mit diesem Verein schließt das Paar eine Lücke
Das Paar startete einen Instagram-Account, um auf ihre Angebote aufmerksam zu machen. Das zeigte Wirkung: Viele Leute meldeten sich, um ihr Vorhaben zu unterstützen. Eine Grafikdesignerin entwarf ein Logo, eine Yogatrainerin bot Kurse für Sternenmamas an, und mit Hilfe einer Webdesignerin entstand eine Internetseite. "Wir haben uns nie aktiv auf die Suche gemacht, die Menschen kamen auf uns zu und haben uns ihre Hilfe kostenlos angeboten", sagt Kathrin Theisen. Der Caritasverband Westeifel und Profamilia Gerolstein sponserten Flyer, 2025 folgte die Vereinsgründung "Sternenkind Vulkaneifel". Mit diesem Verein schließt das Paar eine Lücke. Zu ihnen kommen Betroffene aus der ganzen Eifel, von der luxemburgischen Grenze bis hoch zum Rhein und runter bis zur Mosel.
Diese ganzen organisatorischen Aufgaben stemmten die beiden mit zwei kleinen Kindern. "Das war schon herausfordernd", sagt Kathrin Theisen. Trotz der vielen To-Dos ist das Paar dankbar für diese Aufgabe. "Wir haben damals nach Hilfe geschrien", sagt sie. So eine zentrale Anlaufstelle hätten sie sich damals gewünscht. Heute sind Kathrin und Stefan Theisen zu jeder Tageszeit erreichbar – für Sterneneltern und ihre Angehörigen. In diesem Jahr haben rund 15 Personen bei ihnen angerufen, fragten um Rat, brauchten Kontakte zu Sternenfotografen, Schwangerschaftsberatungen, Seelsorgern oder Bestattern. Das Paar hat den Eindruck, dass die Anrufe im Winter mehr werden.
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Zu ihrer Kernaufgabe gehört, Sterneneltern miteinander zu vernetzen. "Die Hemmschwelle ist oft niedriger, wenn man mit jemandem spricht, der das gleiche durchlebt hat", sagt Kathrin Theisen. Deshalb haben sie für jede Situation verschiedene Ansprechpartner. "Es ist einfach eine andere Erfahrung, wenn das Kind in der achten Woche keinen Herzschlag mehr hat, als wenn es nach der Geburt in den eigenen Armen stirbt", sagt sie – "ohne das irgendwie werten zu wollen." Jeder Trauerprozess sei individuell und habe seine Daseinsberechtigung.
Vor allem rund um den Jahrestag haben viele Eltern mehr Redebedarf als sonst. Das geht auch den Theisens so. Ihnen hilft es, draußen in der Natur zu sein – ihren Sohn dort zu entdecken. An Emils Geburtstag backen sie immer einen Kuchen für ihn und besuchen ihn an seinem Grab. Auch bei seinen Geschwistern ist der große Bruder selbstverständlich Thema. Emils Schwester zum Beispiel winkt zur Verabschiedung nicht nur Mama und Papa, sondern ganz oft auch in den Himmel zu Emil. Beim Essen halten die Geschwister einen Platz für ihn frei oder wünschen ihm kurz vor dem Schlafengehen eine gute Nacht.
"Mit unseren Erfahrungen können wir andere in ihren schwersten Stunden begleiten"
"Die Trauer kommt in Wellen", sagt Kathrin Theisen. "Mal ist sie ganz hoch, dann flacht sie wieder ab, aber sie ist immer da." Die Arbeit in dem Verein helfe ihnen in ihrem Trauerprozess, weil sie sich dadurch immer wieder mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. "Mit unseren Erfahrungen können wir andere in ihren schwersten Stunden begleiten", sagt Stefan Theisen. "Wir sind ein Verein von Sterneneltern für Sterneneltern." Sie betonen, dass ihr Verein unabhängig von Kirche oder anderen Organisationen agiert. Jeder, der Hilfe sucht, ist bei ihnen willkommen.
Mit ihrem Verein haben die Theisens noch einiges vor. Sie möchten ihr Netzwerk erweitern, eine Gesprächsgruppe für Mütter von frühen Fehlgeburten aufbauen und im März 2026 eine Fachtagung veranstalten, die sich der Frage widmet, wie Fachpersonal Sterneneltern in der Akutsituation besser begleiten kann. Denn noch immer fehlt es in vielen Kliniken an Wissen und Einfühlungsvermögen. Das hören die beiden in ihren Gesprächsrunden immer wieder.
Für Kathrin und Stefan Theisen ist dieser Verein mehr als ein Projekt – er ist zu einem Teil ihres Lebens geworden. Durch ihn halten sie die Erinnerung an Emil lebendig und verwandeln ihre Trauer in etwas Gutes. Sie schenken anderen Eltern das, was sie selbst damals so dringend gebraucht hätten: Verständnis, Nähe und die Gewissheit, nicht allein zu sein.