Weihnachten als Leitkultur? Warum das Fest auch ausgrenzen kann
Vor Weihnachten kann in Deutschland kaum einer weglaufen. Ob "Driving Home for Christmas", "Der kleine Loard", geschmückte Innenstädte oder gut besuchte Weihnachtsmärkte – es scheint so, als würde ganz Deutschland von diesem Fest in den Bann gezogen werden. Ein Blick in die Statistik relativiert diesen Eindruck: In einer Umfrage von 2024 gaben 81 Prozent an, Weihnachten feiern zu wollen. Das ist dennoch deutlich mehr als die knapp 45 Prozent Kirchenmitglieder in Deutschland. Was also macht das Weihnachtsfest losgelöst von seinem christlichen Ursprung aus? Eine Kulturwissenschaftlerin und eine Muslima geben einen Einblick.
Feyza Ö. ist in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen großgeworden. Sie gehört zur dritten Generation türkischer Einwanderer. Liberal-muslimisch, so beschreibt sie ihr Elternhaus. Weihnachten wurde dort nicht gefeiert, doch Sankt Martin, Aschermittwoch, die Advents- und Weihnachtszeit – all das lernt Feyza schon früh im katholischen Kindergarten und in der Grundschule kennen. "Meine Eltern haben mir immer erklärt, was an diesen Tagen gefeiert wird", erzählt sie. "Aber es war ihnen auch wichtig zu betonen, dass das christliche Feste sind. Wir aber feiern unsere muslimischen Feiertage wie etwa das Zuckerfest." Das war für Feyza im Kindesalter immer logisch. "Wir schmücken unser Haus halt nicht zu Weihnachten, sondern am Ende des Ramadans."
Doch einige Weihnachtstraditionen schleichen sich dennoch in ihr Elternhaus ein. "Meine Mama hat mir immer einen Adventskalender gekauft" – so ein Stück Schokolade funktioniert schließlich auch ohne jeden Gedanken an die Geburt Jesu. Als Feyzas ältere Schwester ihr erstes Geld verdient, kauft sie ihrer kleinen Schwester davon zum ersten Mal ein Weihnachtsgeschenk. Als ihre Mutter fragt, warum sie ihr etwas zu Weihnachten schenkt, redet sich ihre Schwester raus, erinnert sich Feyza. "Das sei bloß ein Zufall gewesen, dass sie ihr das Geschenk am 24. Dezember überreicht hat." Warum das Geschenk schlussendlich kam, war Feyza eigentlich egal. "Ich war ein Kind, da freut man sich immer über Geschenke."
Die Frage, wer Weihnachten feiert und wer nicht, ist auch politisch
Erst als sie älter wird, versteht sie, dass die Frage, ob man Weihnachten feiert oder nicht, auch politische Dimensionen hat. Feyza erzählt von einem Erlebnis mit ihrer Moschee-Jugendgruppe, die sie damals geleitet hatte. "Wir hatten uns überlegt, am dritten Adventssonntag Plätzchen zu backen und an die umliegenden Häuser der Moschee zu verteilen." Anstatt Tannenbäume oder Weihnachtsmänner stechen sie Kekse in Moschee- und Blumenform aus. Mit Tütchen voller Gebäck gingen sie durch die Nachbarschaft und klingelten an den Häusern. "Doch es gab von allen Seiten nur Kritik", erinnert sie sich. Die Nachbarn zeigten wenig Verständnis, warum diese muslimischen Jugendlichen ihnen eine frohe Weihnacht wünschten. "Statt eines Lächelns bekamen wir Kritik, dass es für diesen Integrationsversuch zu spät sei", so Feyza. Auch aus der eigenen Community gab es viel Unverständnis, warum sie denn ein christliches Fest mitfeiern würden. "Mich hat das einfach frustriert, es keinem recht machen zu können", erzählt Feyza. Egal, ob sie mitfeiert oder nicht, irgendwer stört sich immer daran.
Traditionen wie der Weihnachtsmarkt sind bei vielen Deutschen beliebt – unabhängig von Religion oder Kultur.
Die Kulturwissenschaftlerin Helen Ahner beschreibt Weihnachten als Fest mit integrativem, aber auch mit exkludierendem Potenzial. "Man muss nicht zwangsläufig einer christlichen Religion angehören, um Glühwein zu trinken, Geschenke zu machen und sich an Weihnachten mit der Familie zu treffen", erklärt sie. Weihnachten sei schon immer ein sehr dynamisches Fest – Traditionen hätten sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert. "Es gibt beispielsweise Weihnachtspartys in Clubs, Metalkonzerte mit Weihnachtsthema oder Weihnukka, eine Mischung aus Weihnachten und Chanukka, das von manchen jüdischen Familien gefeiert wird." Die Vielzahl an Traditionen, oft ohne explizit religiösen Bezug, macht das Fest für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen anschlussfähig.
"Gleichzeitig ergibt sich dadurch auch die Erwartung, sich zu diesem Fest zu verhalten", so Ahner. Diese Erwartungshaltung kennt auch Feyza. "Es heißt jedes Jahr aufs Neue: Warum feierst du denn nicht Weihnachten?", erzählt sie. Die Studentin hat das Gefühl, dass viele ihre Community einfach nicht verstehen können. Für viele Muslime sei es einfach normal, kein Weihnachten zu feiern. Hier zeigt sich das exkludierende Potenzial des Festes. Das Weihnachtsfest hat sich im Laufe der Zeit zu einem nationalen Feiertag entwickelt, der sich auch von anderen Feiertagen unterscheidet. Ein Beispiel dafür ist etwas die Weihnachtsansprache des Bundeskanzlers. "Wir stellen wir uns vor, wer das Fest feiert und wer es nicht feiert", sagt Ahner.
„Der Großteil der muslimischen Community wird kein christliches Fest übernehmen.“
Hinzukommt, dass sich das emotionale Kapital des Weihnachtsfests für verschiedene Politiken mobilisieren lasse, erklärt die Kulturwissenschaftlerin. Im 19. Jahrhundert wurde das Fest stark mit der Etablierung des Ideals der bürgerlichen Familie verknüpft. Der tadelnde Vater, der mit Geschenken artiges Verhalten belohnt und die kümmernde Mutter, die die Familie mit gutem Essen versorgt – dieses Bild wurde etwa über Literatur in der Gesellschaft etabliert. "Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870–1871, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg wurde das Fest außerdem politisch genutzt, um Spendenbereitschaft zu mobilisieren und vor allem um nationale Einheit zu stiften", so Ahner. Diese politische Ebene von Weihnachten zeigt sich auch heute noch. Zum Beispiel wenn etwa Friedrich Merz 2023 sagt, einen Weihnachtsbaum aufzustellen sei deutsche Leitkultur.
Feyza stört sich an der Aussage Merz‘. "Ich stelle keinen Weihnachtsbaum auf und bin trotzdem deutsch." Sie kennt diese Forderung, wer sich integrieren will, müsse auch Weihnachten feiern. Die Studentin wünscht sich mehr Verständnis für die kulturelle Vielfalt im Land. "Der Großteil der muslimischen Community wird kein christliches Fest übernehmen. Wir haben schließlich unsere eigenen Feste." Kulturwissenschaftlerin Ahner ergänzt: Patchworkfamilien, Menschen, die arbeiten müssen, arme Menschen, all diese Gruppen passten oft nicht in den Spielplan, der das deutsche christliche Weihnachten vorgebe.
Feyza hat mittlerweile ihren eigenen Umgang mit dem Weihnachtsfest gefunden. Seit einigen Jahren hat sie sogar einen eigenen Stand auf dem Weihnachtsmarkt und verkauft dort selbstgemachte Seifen und Duftkerzen. "Ich gebe zu, ich bin auch ein kleiner Weihnachtsjunkie", erzählt sie lachend. Jedes Jahr freut sie sich über die geschmückten Straßen und vor allem auf Baumkuchen. "Ich feiere aber kein christliches Fest, sondern ich mag diese Dinge einfach." Feyza sagt klar: "Außerhalb meiner Haustür bin ich bei fast allen Weihnachtstraditionen dabei, nur bei mir zuhause – da feiere ich eben nicht."
