Sachsens Bischof über Abwanderung, Neid und Zusammenhalt

Bischof Timmerevers: Es gibt viele Ängste bei den Menschen

Veröffentlicht am 27.12.2025 um 00:01 Uhr – Von Karin Wollschläger (KNA) – Lesedauer: 

Dresden ‐ Sozialreformen, Sparzwänge, Abwanderung – in Sachsen löst das viele Sorgen aus. Bischof Timmerevers besucht auch entlegene Orte. Was er sich von reichen Menschen wünscht und wo er ein generelles Umdenken fordert.

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In Sachsen regiert seit einem Jahr eine schwarz-rote Minderheitsregierung. Die gesichert rechtsextreme AfD ist stark im Land und setzt staatlichen Sparzwängen illusorische Versprechen entgegen. Dresdens katholischer Bischof Heinrich Timmerevers bekommt bei seinen Reisen bis in jeden Winkel des Freistaats viel mit von den Stimmungen in der Bevölkerung. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet er von Verlustängsten, Überalterung ganzer Landstriche und Neidgefühlen. Damit daraus keine Negativ-Spirale wird, fordert er ein allgemeines Umdenken und einen neuen Blick auf Verzicht.

Frage: Herr Bischof Timmerevers, wie nehmen Sie aktuell die gesellschaftspolitische Situation wahr?

Timmerevers: Bei meinen Visitationen spreche ich oft auch mit Bürgermeistern. Wenn ich sie nach der größten Herausforderung frage, sagen mir gerade in ländlichen Regionen viele: Der massive Geburtenrückgang, teils um 50 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Die wenigen Jüngeren wandern oft ab, zurück bleiben die Älteren. Das ist eine bedrückende Perspektive, die viele Menschen sehr sorgenvoll macht. Es trägt dazu bei, dass mancher vielleicht auch ansprechbarer für irgendwelche radikalen Positionen wird. Es fehlt an guter Infrastruktur, an Optimismus. Hinzu kommen große wirtschaftliche Umwälzungen. Da gibt es viele Ängste bei den Menschen, die vielleicht auch geschürt werden, vor allem Verlustängste.

Frage: Die Bundesregierung geht umfangreiche Sozialreformen an. Ob gesetzliche Rente oder Bürgergeld. In Ostdeutschland sind sehr viele Menschen darauf angewiesen. Was sagen Ihnen die Menschen?

Timmerevers: Für die Leute ist das schon sehr bedrohlich. Viele fragen sich: "Wie sollen wir das meistern?" Hinzu kommt teilweise ein Misstrauen gegenüber ankommenden Hilfesuchenden. Da wird sehr genau hingeschaut, wer welche staatlichen Hilfsleistungen bekommt: "Was kriegen die, was kriegen wir?" Ich beobachte Neidgefühle und eine Polarisierung. Die Leute sind sensibel dafür, ob es gerecht zugeht. Das finde ich auch verständlich.

Frage: Überall in Politik, Gesellschaft und Kirche muss gespart werden. Verzicht ist aber meist negativ konnotiert. Kann die Kirche nicht eine Perspektive beisteuern, warum Verzicht auch sinnvoll und ein Beitrag zum Gemeinwohl sein kann?

Timmerevers: Es wäre schön, wenn man das hinkriegen könnte. Aber das ist leicht dahingesagt. Natürlich verkündet die christliche Botschaft des Evangeliums, dass das Materielle nicht das allein Erstrebenswerte ist. Aber Menschen, die sich sorgen, wie sie über die Runden kommen können – deren Not wird man nicht mit einem geistlichen Wort lindern. Es ist entscheidend, wie wir auf den Verlust schauen. Erleben wir es als Wegfall von oder Verzicht für etwas. Aus dem weniger kann wieder Neues wachsen. Darauf setzen wir auch als Bistum.

Frage: Und was ist mit reicheren Menschen?

Timmerevers: Ich wünschte mir, dass reichere Menschen merken, dass Vermögen, Kapital und Wohlstand eine Verantwortung in sich bergen. Ich glaube, das gelingt nur, wenn man sich auch mal auf andere Wirklichkeiten und Lebenssituationen einlässt. Begegnung verändert ein Denken und das Verhalten. Ich glaube aber, dass es vielleicht ein ganz grundsätzliches Umdenken braucht.

„Begegnung verändert ein Denken und das Verhalten. Ich glaube aber, dass es vielleicht ein ganz grundsätzliches Umdenken braucht.“

—  Zitat: Bischof Timmerevers

Frage: Inwiefern?

Timmerevers: Es gibt sehr hohe Erwartungen, was der Staat alles für unseren Wohlstand tun soll. Das bringt ihn an seine Grenzen. Ich glaube, eine Gesellschaft kann so keinen Bestand haben, wenn alle nur etwas erwarten und nicht auch die Bereitschaft da ist, etwas einzubringen. Ich finde den berühmten Satz von John F. Kennedy richtig und wichtig: Frage nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern frage dich bitte selbst, was kannst du für den Staat tun? Ich möchte dafür werben, dass "der Staat" keine abstrakte Größe ist, gar als "die da oben" missverstanden wird. Es geht um uns. Um mich, um dich.

Was uns fehlt ist eine hoffnungsvolle Perspektive auf uns als Gemeinschaft derer, die hier leben. In diese Gemeinschaft müssen wir investieren. Wir können nicht immer nur einfordern, sondern wir müssen uns auch darin üben, etwas einzubringen und vielleicht auch mehr als früher.

Frage: Beim Thema Fasten scheint eine positive Deutung von Verzicht inzwischen gelungen – da sagen viele: Das tut mir gut. Ließe sich das nicht auch auf andere Bereiche übertragen?

Timmerevers: Beim Fasten gibt es ganz unterschiedliche Motive. Es kann einen spirituellen Hintergrund haben oder einen gesundheitlichen. Es kann in einer übersteigerten Weise auch eine Form von Egoismus annehmen: Ich will schlank sein, ich will schön sein. Dann verzichtet jemand nicht, um damit etwas Gutes zu bewirken, sondern sieht darin für sich selbst einen Gewinn. In einem gesunden Maß ist Selbstfürsorge und Achtsamkeit natürlich wichtig! Ich glaube, entscheidend ist: Welche Motive führen mich dahin, dass ich auf etwas verzichte? Und gesellschaftspolitisch: Kann vermittelt werden, warum man verzichten sollte? Wenn ich sehen und erkennen kann, dass mein Verzicht Bedürftigeren zugutekommt – dann lasse ich mich eher dazu bewegen.

Vor kurzem war eine Schulklasse um den Nikolaustag bei mir. Ich habe sie gefragt, welche Erfahrungen sie gemacht haben, etwas zu teilen. Die Antworten kamen unvermittelt direkt aus den Herzen der Kinder: "Es war schön." "Es hat mir gut getan." "Es hat Freude gemacht." Diese Grunderfahrung, dass das Miteinanderteilen nicht zwangsläufig eine Verlusterfahrung sein muss, könnte man auch groß denken.

Frage: Wir erleben, dass Parteien wie die AfD mit utopischen Versprechen wie 70 Prozent Rente für alle werben. Das findet durchaus Anklang bei Menschen. Wie kann man dem beikommen?

Timmerevers: Ich glaube, die Politik ist schon gefragt zu liefern. Die Regierungsverantwortlichen müssen vermitteln, dass sie sich wirklich für die Bedürfnisse der Menschen einsetzen. Es muss erkennbar werden, dass die Politik den Menschen dient und soziale Gerechtigkeit sowie Ausgleich ermöglicht. Aktuell ist ganz entscheidend, dass die demokratischen Parteien der Mitte konstruktiv gemeinsame Lösungen entwickeln und von öffentlichem Machtgerangel absehen. Sonst wird sich der politische Frust bei den Menschen weiter bei den Wahlen auswirken und sie werden noch vermehrter Extreme wählen.

Friede in einer Gesellschaft setzt auch Gerechtigkeit voraus. Das muss bei allen Entscheidungen – auch hinsichtlich zukünftiger Kürzungsdebatten gerade im sozialen Bereich – im Hinterkopf bleiben. Sparmaßnahmen dürfen die Gerechtigkeitslücke nicht größer machen. Kirche engagiert sich mit Caritas und vielen Ehrenamtlichen, um Ungerechtigkeiten auszubalancieren. Aber auch das braucht einen Rahmen, für den der Wohlfahrtsstaat wesentlich mitverantwortlich ist.

Bischof Heinrich Timmerevers
Bild: ©KNA/Dominik Wolf

"Es gibt sehr hohe Erwartungen, was der Staat alles für unseren Wohlstand tun soll. Das bringt ihn an seine Grenzen. Ich glaube, eine Gesellschaft kann so keinen Bestand haben, wenn alle nur etwas erwarten und nicht auch die Bereitschaft da ist, etwas einzubringen", so Timmerevers.

Frage: Der katholischen Kirche in Deutschland ist es in den vergangenen Jahren beim Reformprojekt Synodaler Weg gelungen, kontroverse Gruppen miteinander ins Gespräch zu bringen und Kompromisse zu beschließen. Haben Sie aus diesen Erfahrungen heraus einen Tipp für die Politik?

Timmerevers: Was es braucht, ist eine Kultur des Beieinanderbleibens. Natürlich muss man über unterschiedliche Positionen diskutieren, um das Beste für die Menschen zu suchen. Das geht aber nur in einem konstruktiven Dialog miteinander. Man muss den anderen verstehen wollen. Dazu gehört ein intensives und aktives Zuhören. Die Debattenkultur im Bundestag hat teils persönlich diffamierende Züge. Diese Art zu debattieren ist sehr verletzend.

Wichtig ist vor allem, sich als Erstes auf eine gemeinsame Basis zu verständigen. Auf dieser Grundlage kann man dann miteinander um einen gemeinsamen Weg ringen und auch streiten, aber respektvoll dem anderen gegenüber. Es ist zweifelsohne manchmal mühsam. Aber es zahlt sich am Ende aus, beieinanderzubleiben.

Von Karin Wollschläger (KNA)