Sehnsucht nach Freiheit
Der 7. Oktober 1989 ist ein Samstag, nationaler Feiertag in der DDR. Bereits früh am Morgen treffen sich die Schulklassen im Zentrum von Karl-Marx-Stadt zum Großstaffellauf. Heute feiert der sozialistische "Arbeiter- und Bauernstaat" sein 40-jähriges Bestehen im Schatten des "antifaschistischen Schutzwalls". Unter den Trainingsanzügen tragen wir Achtklässler Sporthemd und Turnhose in den Schulfarben. Auf der "Straße der Nationen" tönen aus Lautsprechern der Kampfgruppenverbände und der Bereitschaftspolizei Marschmusik und Ansagen. Vor dem "Interhotel Moskau" ist eine Tribüne aufgebaut, geschmückt mit bunten Papierblumen.
Aufregung und Anspannung unter uns sind groß: Die 4-mal-100-Meter Staffel führt mitten durch das Zentrum der Stadt, unter den Augen tausender Zuschauer, Schüler und Lehrer, schließlich vorbei an der Ehrentribüne der Parteifunktionäre. Zwischendurch immer wieder der Knall der Startpistolen. Unsere Staffel schafft es schließlich in den Zwischenlauf und unter die fünf Besten. Alles wie jedes Jahr.
Protestplakate versteckt unter der Jacke
Doch diesmal ist etwas anders: Auf dem Heimweg zur Buszentralhaltestelle wird unsere Gruppe plötzlich abgedrängt. Polizisten mit Schutzschilden und Schlagstöcken, Wasserwerfer und Polizeistaffeln mit Hunden sammeln sich. Über uns kreist ein Hubschrauber, Straßen werden abgeriegelt, unser Bus umgeleitet. Während im Hintergrund noch altbekannte Töne aus den Lautsprechern scheppern, zieht nur wenige hundert Meter von uns ein Demonstrationszug mit rund 1.000 Menschen schweigend durch die Stadt. Unsere Lehrer scheinen nervös zu sein. Nur keine Fragen stellen, ist mir augenblicklich klar. In der Luft liegt Verunsicherung. Im Bus fallen schließlich die Worte "Neues Forum". Keine Ahnung, wer es zuerst gesagt hat. Fragende Blicke, Stille.
Eine Woche später sitze ich wieder im Bus Richtung Stadtzentrum. Es ist kalt und regnerisch. Am Morgen hatte meine Mutter leise mit den Nachbarn im Haus gesprochen. Auf der Karl-Marx-Allee, direkt vor dem mehr als sieben Meter hohen Bronzekopf von Karl Marx und dem Zentralgebäude der SED- und Bezirksverwaltung, wird das "Neue Forum" sprechen. Der Nachbar im Erdgeschoss hat uns drei Plakate gegeben, die wir heimlich mitnehmen sollen. Unter den dicken Jacken eingerollt bemerkt sie im Bus keiner. Nur zwei gedruckte Worte stehen darauf: "Freie Wahlen!". Im Bus ist es still, wenige steigen aus. Es wird voll.
Als der Busfahrer an der Haltestelle am Stadtbad die Türen öffnet, drängen fast alle in die Dämmerung hinaus. Tausende Demonstranten mit selbstgebauten Fahnen, Plakaten und Kerzen füllen die mehrspurige Straße und geben dem marxistischen Slogan "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" zu Füßen seines Autors eine ganz neue Bedeutung. Wenige Jahre zuvor hatte ich in meiner Heimatpfarrei St. Joseph die heilige Erstkommunion empfangen. Von unseren Bänken aus schauten wir Ministranten auf drei Mosaikfenster im südlichen Seitenschiff. Ganz rechts hält der heilige Thomas Morus ein Buch in seiner Hand. Der Titel gab mir viele Rätsel auf: "Utopia". Im Geschichtsunterricht an der Polytechnischen Oberschule stand das Christentum mit dem Titel "Sklavenhaltergesellschaft" nur auf der zweiten von sechs Wandtafeln aller Entwicklungsstufen der Menschheit Vier Stufen weiter, auf dem Höhepunkt der menschlichen Entwicklung, der Kommunismus. War unser Glaube also nur eine Utopie?
Zwei Jahre vorher war ich als einziger Schüler in der ersten Klasse nicht in die "Jungen Pioniere" eingetreten. Ich lehnte auch den Eintritt in die FDJ ab und nahm nicht an der Jugendweihe teil - mit allen Konsequenzen. In diesen Jahren des real existierenden Sozialismus waren meine Familie, der Glaube und die Pfarrgemeinde tagtäglich die befreiende Realität in meinem Leben. Das Eintreten durch das Kirchentor fühlte sich wie die Landung auf einer Insel an: Hier konnte ich sagen, was ich wirklich dachte, und alle Fragen stellen, die ich hatte. Hier gehörte ich dazu, und wurde nicht ausgegrenzt. Hier freute man sich auf mich, und ich wurde nicht schikaniert oder verspottet. Hier diskutierten wir auch über die Zukunft in unserem Land, und hier durften die Diskussion und auch die Zukunft selbst offen sein. Und hier hielten wir auch zusammen, beteten zusammen, lachten zusammen und hatten als Teenager vor niemandem Angst.
Nach 25 Jahren: Vieles Erträumte ist Realität geworden
Bis in den Winter 1989 demonstrierten wir jeden Montag für freie Wahlen, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, das Ende von Bespitzelung und staatlicher Willkür. Oft nur in kurzen Sätzen in die Nacht gerufen, am lautesten immer dann, wenn wir an den Polizeiketten und Absperrungen vorbeiliefen: "Keine Gewalt!", "Wir wollen raus!", "Freie Wahlen!", "Stasi raus!" und später dann, als aus den Tausenden zehntausende Demonstranten geworden waren: "Wir sind das Volk". Bei einer der Demonstrationen stand auch der Pfarrer unserer Pfarrgemeinde am Rednerpult. Als katholischer Priester sprach er von der wahrhaft befreienden Botschaft Jesus Christi, und ermutigte, sich nicht zur Gewalt hinreißen zu lassen. Nein, dieser Glaube war keine Utopie, hier wurde die sozialistische Geschichtsschreibung gerade auf den Kopf gestellt.
"Man hätte ... besser machen können...", "Wenn man..." - die Zahl der Konjunktive und Möglichkeiten wächst bekanntlich mit den Jahren. 25 Jahre später schaue ich heute vor allem mit größerem Überblick auf die Ereignisse von 1989. Von den vielen Ungewissheiten sind einige schon selbst wieder Geschichte. Vieles Erträumte ist Realität geworden. Am meisten staune ich jedoch über die Courage und die Furchtlosigkeit, mit der wir damals den großen Aufbruch wagten. Für Millionen Menschen veränderte die "Wende" von 1989 fast alles.
Dabei hatte die Staatsdoktrin der DDR doch allen Bürgern des Landes jahrzehntelang eingetrichtert, dass sich nichts mehr ändern ließe, dass wir schon am Ziel der Träume wären, dass die höchste Entwicklungsstufe des Menschen im Kommunismus erreicht sei und bei allem, was noch zu tun wäre, die Partei allein recht hätte. Dass wir diesen perfiden ideologischen Schleier zerreißen konnten, der so drückend und bleiern über und in vielen Köpfen hing, scheint mir heute das Herausragende am Herbst 1989.
"Wir müssen das Tal des Sozialismus durchschreiten", auch diese gemeinsame Überzeugung hat die christlichen Gemeinden in der DDR - Katholiken und Protestanten - in dieser Zeit miteinander verbunden. Galten wir doch historisch und dialektisch als zurückgeblieben, und trafen uns deshalb oft Hohn und Verachtung im Alltag gleichermaßen. Die existentiellen Fragen, ob es Gott gibt, wohin uns Gott führt, welches Verhalten Gott von uns erwartet, habe ich in diesen Jahren gerade als verbindende, belebende und ermutigende Kraft unter uns wenigen Christen erfahren.
Freiheit als Sauerstoff für Seele und Geist
Die gemeinsamen Antworten förderten auch gegenseitigen Respekt und Unterstützung. Der Glaube gab mir selbst schließlich im Herbst 1989 die entscheidende Gewissheit, für eine gerechte Sache einzutreten. Daraus wuchsen Entschlossenheit und Bereitschaft, sich auf Ungewissheiten und eine unbekannte Zukunft einzulassen. Außerordentlich dankbar bin ich bis heute für die Erfahrung einer gewaltlosen Revolution! Ja, wir sind Kinder einer echten Revolution! Freiheit heißt für mich im Rückblick nicht Perfektion, Freiheit ist nicht der beste Plan, Freiheit ist nicht Erfolg auf ganzer Breite, Freiheit ist letztlich nicht einmal das Ziel. Freiheit scheint mir vielmehr Voraussetzung zu sein, Beginn für ein Leben in Würde, Gerechtigkeit, Frieden und Fülle. Dann ist Freiheit wie die Luft zum Atmen, Sauerstoff für Seele und Geist.
Bis heute empfinde ich eine Art spontane Verbundenheit mit allen Menschen, die für die Grundfreiheiten menschlicher Existenz bereit sind einzustehen. Und es berührt mich jedes Mal, wenn ich den Mut von Menschen sehe, für die insbesondere die persönlichen Freiheits- und Menschenrechte sowie die Glaubens- und Gewissensfreiheit tief empfundenes Bedürfnis und Antrieb für Veränderungen sind. Freiheit ist wohl letztendlich wie ein Ruf tief in uns, mit dem Gott uns, seine Kinder, immer wieder auf den Weg zu einem Leben in Fülle rufen möchte. 1989 sind nicht nur wir Christen diesem Ruf gefolgt.