Keine Kultur ohne Religion
Frage: Herr Kirchhof, welchen Gott meint das Grundgesetz in seiner Präambel?
Kirchhof: Wir haben dazu eine schöne Vorlage aus dem 15. Jahrhundert von Nikolaus von Kues. Er sagt: Alle Religionen, die nach einem Gott suchen, meinen denselben Gott, wenn es einen gibt. Insofern meint das Grundgesetz den einen Gott, den diese Religionen gemeinsam suchen.
Frage: Aber steht denn nicht eine christlich-jüdische Annahme hinter dem Gott des Grundgesetzes?
Kirchhof: Das Christentum prägt unsere Geschichte, prägt unsere Kultur und prägt ganz wesentlich unser Recht - die Würde des Menschen, das Individualrecht auf Freiheit und Gleichheit sind zentral. Deswegen ist ein Ausgangspunkt unseres Denkens und unseres rechtlichen Handels das Christentum, das sich erneuert hat im Humanismus, in der Aufklärung, in den sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts.
Frage: Was heißt das für Muslime oder Menschen, die keine Monotheisten sind oder überhaupt keiner Religion angehören?
Kirchhof: Wir haben das Prinzip der Religionsfreiheit - das heißt nicht nur, dass niemand zu einer Religion gezwungen wird, sondern dass dieser Staat alle Religionen, soweit sie sich im Rahmen des Rechts und des Friedensprinzips bewegen, als gleichwertig ansieht. Der Staat billigt oder missbilligt nicht eine Religion, sondern er erwartet, dass die Menschen sich religiös so entfalten, wie sie es in Freiheit wollen. Das gilt auch für ihre Organisationen. Das können Kirchen sein oder Weltanschauungsgemeinschaften - das meint auch Atheisten oder Antireligiöse.
„Das Grundgesetz meint in Artikel 140 die Körperschaften, die sich mit Religion befassen.“
Frage: Trotzdem haben wir ein Staatskirchenrecht oder ein Religionsverfassungsrecht, wie man heute gerne sagt - da schauen Sie schon kritisch, den Begriff finden Sie unpassend?
Kirchhof: "Religionsverfassungsrecht" klingt zu sehr nach den Grundrechten. Das Grundgesetz meint in Artikel 140 die Körperschaften, die sich mit Religion befassen. Der Begriff "Staatskirchenrecht" ist etwas in Verruf geraten, weil er nach "Staatskirche" klingt. Gemeint ist aber das Recht, das das Verhältnis von Staat und Kirche regelt.
Frage: Wenn wir nun die muslimischen Spitzenverbände anschauen: sind das Religionsgemeinschaften im Verfassungssinne?
Kirchhof: Das sind sicherlich Religionsgemeinschaften, sie sind aber noch nicht Körperschaften des öffentlichen Rechts, weil sie diesen Status noch nicht beantragt haben. Religionsgemeinschaften sind sie jedoch eindeutig: Gruppierungen von Menschen, die einen gewissen Organisationsgrad und zahlenmäßig eine gewisse Bedeutung haben und die sich das Religiöse zu ihrer Aufgabe machen.
Frage: Die Spitzenverbände könnten also die Anerkennung als Körperschaften beantragen und so hätte der Staat einen Verhandlungspartner, der äquivalent ist zu den Kirchen?
Kirchhof: Das wären dann Kirchen. Der Staat kann nicht verordnen, wie diese Gemeinschaften sich organisieren. Zurzeit liegt dort ein beachtliches Problem, weil der Staat keinen verlässlichen Partner hat, solange die Gemeinschaften noch keine Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Er braucht jemanden, mit dem er einen Vertrag schließen kann, der für die nächsten 20 Jahre gilt.
„Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft bisher glaubte, sie könne Kultur bewahren ohne Religion. Das ist ein Irrtum.“
Frage: Warum engagieren Sie persönlich sich im interreligiösen Dialog?
Kirchhof: Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft bisher glaubte, sie könne Kultur bewahren ohne Religion. Das ist ein Irrtum. Kein Mensch lässt es sich nehmen, nach Ursprung und Ziel seiner Existenz, nach Herkunft und Zukunft seines Lebens zu fragen. Die religiöse Frage, die den Menschen selbst übergreift, ist jedem Menschen eigen. Deswegen ist nicht die Frage, ob wir in unserer Kultur ohne Religion leben können, sondern mit welchen Religionen. Die Realität ist, dass wir uns nicht mehr wie früher im Wesentlichen mit zwei Konfessionen des Christentums auseinandersetzen, sondern wir setzen uns mit unterschiedlichen Religionen auseinander. Da muss Dialog stattfinden. Aber das ergibt sich nicht einfach so, dafür muss man etwas tun.
Frage: Verändert sich der interreligiöse Dialog im Moment dadurch, dass viele Flüchtlinge aus muslimischen Gesellschaften zu uns kommen?
Kirchhof: Dadurch, dass mehr Muslime hier leben, verändert sich der Dialog. Das ist anregend. Denken Sie an das Mittelalter: Aristoteles haben wir nicht etwa durch Ausgrabungen in Griechenland, sondern über muslimische Gelehrte hier in Europa als ein Fundament unserer Kultur wiedergefunden. Viele Begrifflichkeiten unserer Essgewohnheiten sind arabische Wörter. Also wir müssen jetzt nicht Angst haben, dass da etwas Fremdes auf uns zukommt. Jede Religion wird missbraucht, das haben auch wir Christen erlebt - Menschen haben politische Anliegen, Machtbestrebungen, finanzielle Interessen, Selbstsüchtigkeiten, Lebensenttäuschungen, die sie rächen wollen - und dann bedient man sich in den daraus folgenden Kämpfen und Kriegen auch der Religion. Das hat aber mit Religion als solcher nichts zu tun. Vielleicht waren Jesus und Mohammed geistig sehr benachbart.
Frage: Glauben Sie, dass die Angst vor Fremden, die als sehr religiös eingeschätzt werden, damit zu tun hat, dass der ursprünglich christlichen Bevölkerung ihre traditionelle Religion oft verloren gegangen ist?
Kirchhof: Das könnte so sein, ja. Weil viele Menschen mit Religion nicht mehr selbstverständlich umgehen können, ängstigt die Sicherheit des anderen in seiner Religion. Doch Religion ist eine große Chance für das Zusammenleben. Terrorismus ist nicht Religion. Dort handeln Menschen, die auch eine Religion haben, aber ihr Handeln ist nicht der Ausdruck dieser Religion. Wenn die Angst vor Anschlägen, vor Terrorismus übermächtig würde, dann würden wir in bloßer Distanz und Abwehr verharren. Damit würden wir unsere Kultur, die eine freiheitliche ist, aufgeben.