Ein neuer Morgen für die Kirche
Die große Schlussfeier auf dem sonnigen Petersplatz machte auf den nüchternen Kölner Kardinal Josef Frings einen "sehr theatralischen" Eindruck; jedenfalls, meinte er, sei "das Ganze südlich empfunden". Und auch sein junger theologischer Berater Joseph Ratzinger, dessen Stern beim Konzil leuchtend aufging, fand die katholische Großkundgebung "ein wenig überladen und äußerlich".
Ganz anders am Vortag, so schreibt der heute emeritierte Papst Benedikt XVI. in seinen Konzilserinnerungen von 1966 nieder, als in der letzten Arbeitssitzung "der Atem der Geschichte wie kaum je zuvor zu spüren war": Papst Paul VI. und der Patriarch von Konstantinopel, Athenagoras, waren übereingekommen, den gegenseitigen Bannfluch, den die Gesandten ihrer Vorgänger gegeneinander ausgesprochen hatten, in einer gemeinsamen Erklärung aufzuheben.
Der stürmische Beifall, der den symbolischen Friedensgruß zwischen dem Papst und dem Legaten Konstantinopels im Petersdom begleitete, wurde nur gedämpft, so Ratzinger, "von der Ergriffenheit, der sich wohl kein Teilnehmer jenes geschichtlichen Augenblicks entziehen konnte".
Zurück zu den Problemen der Menschen
Die große Geste des 7. Dezember 1965, flankiert von der Verabschiedung mehrerer zentraler Konzilsdokumente, war ein würdiger Abschluss jenes von Johannes XXIII. geforderten "aggiornamento", der "Aktualisierung" der kirchlichen Verkündigung nach den Erfordernissen der Zeit. Aus der Wagenburg, in der sich Kirche und Papsttum seit der Französischen Revolution in einseitig negativen Verurteilungen gegen die Welt draußen verschanzt hatten, fanden die 2.500 Konzilsväter durch Tausende Seiten Akten, Entwürfe und Änderungsanträge tastend und allmählich den Weg zurück zu den Problemen der Menschen in der Moderne.
Eine solche Neuausrichtung ging freilich nicht ohne innere Widerstände ab. Schon bald nach der Ankündigung des Konzils entspann sich hinter den Kulissen ein heftiges Ringen zwischen den "Bewahrern" und den "Progressiven", von denen sich vor allem die Nordeuropäer wie die Kardinäle Suenens, Frings, Lienart oder Alfrink hervortaten. Dass die Reformbestrebungen nicht vornehmlich von der kirchenpolitischen "Linken" vorangetrieben wurden, sondern tatsächlich aus dem "Mainstream" der Konzilsmehrheit entsprangen, belegt nicht zuletzt der Bauernsohn Johannes XXIII. selbst, dessen theologisch tief konservative Gesinnung niemand ernsthaft in Zweifel ziehen kann.
Das erste Konzil seit fast einem Jahrhundert verabschiedete 16 Grundsatzdokumente, aber kein Dogma. Es war ein Reform-, kein Lehrkonzil, und es führte zu tiefgreifenden Veränderungen, etwa zu einer liturgischen Erneuerung zu Lasten der lateinischen Sprache. Die Konzilsväter stärkten das Selbstbewusstsein der Ortsbischöfe gegenüber Rom, aber auch der Laien gegenüber den Bischöfen. Weltkirche wurde ganz neu bewusst, und Rom vollzog eine ökumenische und interreligiöse Öffnung ohne Vorbild.
Die dreijährige Kirchenversammlung machte Berater und Bischöfe zu Helden, zu Stars der Theologie des 20. Jahrhunderts: Schillebeeckx, Bea, König, Congar, Rahner, Ratzinger. Die "Bewahrer" wurden in der Öffentlichkeit zu Buhmännern abgestempelt, etwa Kardinal-Staatssekretär Ottaviani. Die "Deutschen", die auf dem Konzil zu den Zugpferden der Reform gehörten, bekamen allerdings zunehmend Bedenken, vor den Karren der Linken gespannt zu werden - zumal aus der Heimat bereits immer weiter gehende Reformwünsche geäußert wurden.
Der "Geist des Konzils"
Die manchmal scharfen Auseinandersetzungen der beiden Pole hielten bis zum letzten Tag des Konzils an - und setzen sich teils bis heute und bis hinein in Pfarreien und Pfarrsäle fort. Beide Strömungen beriefen und berufen sich auf den "Geist des Konzils" - ein Ergebnis auch der Not der Konzilsväter, angesichts der Flut der abzuarbeitenden Dokumente große Kompromisse selbst in zentralen Formulierungen schließen zu müssen.
Der Euphorie des Konzils folgte neben einem geistlichen Aufbruch in vielen Gemeinden auch eine Zeit der Verunsicherung. Die teils übers Ziel hinaus schießende Experimentierfreude im Gottesdienst und der regelrechte Bildersturm bei Kircheneinrichtungen und liturgischen Kunstschätzen trieb manche Katholiken, die ihre vertrauten Ausdrucksformen des Glaubens quasi per Handstreich schwinden sahen, in die Arme der Traditionalisten; etwa des französischen Erzbischofs Marcel Lefebvre, der zentrale Konzilsbeschlüsse ablehnte und mit seinen Anhängern bis ins Schisma ging. Die für viele traumatische "Revolution der 68er" bekräftigte sie in der Meinung, die Kirche habe sich zu sehr dem Zeitgeist angedient.
Dennoch: In den 1970er und 80er Jahren ist das Konzil in den Köpfen der allermeisten Katholiken angekommen. Manche halten heute sogar bereits ein Drittes Vatikanum für notwendig. Doch es war der wichtigste Konzilienforscher des 20. Jahrhunderts, Hubert Jedin - selbst ein begeisterter Anhänger bei der Eröffnung und ein bitterer Bedenkenträger in den Jahren danach -, der als Essenz seiner Forschung festhielt: Jedes Konzil hat mindestens ein halbes Jahrhundert bis zu seiner Umsetzung warten müssen. Und auch der Theologe Karl Rahner zeigte sich überzeugt, es werde "lange dauern, bis die Kirche, der das Konzil geschenkt wurde, die Kirche des Konzils sein wird".