Soziologe: Hospizbewegung droht ihre Seele zu verlieren

Abrechnung in Sterbeminuten

Veröffentlicht am 07.01.2016 um 13:30 Uhr – Von Christoph Arens (KNA) – Lesedauer: 
Sterbebegleitung

Gießen ‐ Der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer fürchtet, dass die Hospizbewegung ihre Seele verliert. Palliativmedizin und Hospize drohten immer mehr zu einer standardisierten Dienstleistung zu werden, sagt er im Interview. Was bedeutet das für die Kirche?

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Frage: Herr Gronemeyer, wo stehen Palliativmedizin und Hospizarbeit mit dem neuen Gesetz, das mit dem neuen Jahr in Kraft getreten ist?

Gronemeyer: Die Palliativmedizin ist gestärkt worden, aber die ehrenamtliche Hospizarbeit sehe ich geschwächt. Die Palliativmedizin ist ihrem Ziel, die Begleitung Sterbender zu einer professionellen, bezahlten und flächendeckenden Dienstleistung zu machen, einen wesentlichen Schritt näher gekommen. Auch die Hospizarbeit wird zunehmend Teil dieser umfassenden Versorgungskultur; die Ehrenamtlichen werden immer mehr an den Rand gedrängt, und nicht wenige reagieren darauf mit Verbitterung. Viele Palliativmediziner sehen die Hospizbewegung lediglich als laienhafte Vorläufer einer professionellen Versorgung.

Frage: Aber der Anteil der Sterbenden, die die Sterbebegleitung erhalten, die sie brauchen, ist immer noch gering. Lässt sich Ihre Diagnose da aufrechterhalten?

Gronemeyer: Es stimmt, dass die Zahlen noch gering sind. Aber mir geht es um den Trend: Ein Sterben mit professioneller palliativmedizinischer Versorgung wird immer selbstverständlicher. Sterbende und ihre Angehörigen drohen zu Kunden einer Sterbeexpertokratie zu werden, die an Fallpauschalenregelungen gebunden ist und ihre Leistungen in Sterbeminuten abrechnen muss. Dahinter steckt die Idee, dass alles im Leben der Optimierung, der Verwaltung, der Dienstleistung bedarf: Anders können wir uns Leben nicht mehr vorstellen. Das geht bei der Geburt los und hat jetzt auch das Sterben im Griff.

Bild: ©picture alliance/dpa/Horst Galuschka

Reimer Gronemeyer ist evangelischer Theologe, Soziologe und Autor. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft.

Frage: Gilt das auch für die Hospizbewegung?

Gronemeyer: Leider ja. Sie droht an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken. Die Hospizbewegung ist eine der wichtigsten sozialen Initiativen in Deutschland, die vor allem von Frauen getragen worden ist. Sie hat dafür gesorgt, dass heute mehr Geld für Menschen am Lebensende zur Verfügung steht. Doch ist sie immer deutlicher in eine aussichtslose Konkurrenz zur Palliativmedizin geraten, die nun die Früchte der Hospizbewegung erntet. Um mitzuhalten, muss die Hospizbewegung zeigen, dass sie auch fast alles kann: Qualitätskontrolle, Zertifizierungen, Standardisierung von Angeboten. Es droht ein Zwang zu Bürokratisierung und Dokumentation - der Weg zu qualitätskontrolliertem Sterben. Letztlich wird die Hospizbewegung aber nicht mithalten können und den Kürzeren ziehen.

Frage: Was wäre denn die Alternative zu diesem Ausbau?

Gronemeyer: Ich kenne auch keine Alternative. Wir können diese Entwicklung wohl nicht mehr aufhalten. Aber ich möchte zumindest dem abfahrenden Zug noch einmal hinterherwinken und fragen, ob diese Entwicklung uns wirklich gut tut. Die uralte Aufgabe des Menschen, sein eigenes Sterben ins Auge zu fassen, wird zunehmend überdeckt durch einen medizinischen Dienstleistungssektor, der den Menschen die Sorge um sich abnimmt und Sterben in die Angebotspalette einreiht: Konsumismus bis zuletzt: Was möchten Sie noch? Wie wollen Sie ihren eigenen Tod gestalten? Gesiegt hat die Freiheit des Kunden. Auch die Kirchen machen mit. Die Kunst des Sterbens gerät in Vergessenheit, Spiritualität wird zum medizinischen, psychologisch spezialisierten Angebot.

Themenseite: Ethik am Lebensende

Politik und Gesellschaft diskutieren über die Sterbehilfe. Für die katholische Kirche ist klar: Auch im Sterben hat der Mensch eine Würde, die es zu achten und zu schützen gilt. Sie setzt sich deshalb besonders für eine professionelle Begleitung von Sterbenden ein.

Frage: Die Kirchen haben die Hospizbewegung maßgeblich gefördert...

Gronemeyer: Aber ich fürchte, dass der religiöse Aspekt immer weiter ins Hintertreffen gerät. Fast zwangsläufig wird ein solcher Dienstleistungssektor - ob in Palliativmedizin oder Hospizen - alle "Ideologie" abstreifen müssen. Ich fürchte sogar, dass sich auch der Trend zur Sterbehilfe nicht aufhalten lässt: Eigentlich sollen Hospize den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe gar nicht erst aufkommen lassen. Aber wie lange wird man sich dem "Kundenwunsch" nach Euthanasie verweigern können? Es läuft darauf hinaus, dass die Patienten irgendwann wählen können zwischen einer klassischen palliativ-hospizlichen Versorgung und einer medizinisch gestützten Sterbehilfe.

Frage: Ein flächendeckender Ausbau von Palliativmedizin und Hospizen würde sehr viel Geld kosten.

Gronemeyer: Das ist ein entscheidender Faktor. Das Lebensende wird zu einem ökonomisch interessanten Bereich. In den USA sind Hospizketten zum Teil schon an die Börse gegangen. Abzusehen ist aber, dass in einer alternden Gesellschaft die Kosten explodieren werden - was letztlich zu einer Deckelung der Kosten auch in diesem Bereich führen wird. Die Reichen werden sich dann eine Begleitung de luxe erlauben können, die anderen nicht. Dann könnte die Stunde der ehrenamtlichen Hospizarbeit erneut schlagen: Wenn die Menschen die für viele unbezahlbare, perfekt organisierte, kalte und genormte Sterbeversorgung nicht mehr wollen.

Von Christoph Arens (KNA)