Aiman Mazyek über die Folgen der Kölner Silvesternacht

"Das sind verbale Brandbomben"

Veröffentlicht am 12.01.2016 um 10:45 Uhr – Von Julia-Maria Lauer – Lesedauer: 
Kriminalität

Bonn ‐ Seit der Kölner Silvesternacht entlädt sich in Deutschland der Hass gegen Ausländer. Im Interview berichtet der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, wie er diese Situation erlebt.

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Frage: Herr Mazyek, Sie beklagen eine neue Welle der Islamfeindlichkeit – besonders jetzt nach den Vorfällen in Köln und anderen Städten. Wie drückt sich diese aus?

Mazyek: Vor allem durch Drohmails und Hassbotschaften am Telefon. Wir sprechen da von einer Zahl, die über das normale Maß weit hinausgeht. Das heißt: in der Woche mehrere hundert Drohmails und Beschimpfungen. Wenn dann an einem Tag so viele Beleidigungen wie zuvor in einer ganzen Woche erfolgen, dann merkt man, dass sich da etwas verändert hat.

Frage: Warum fällt vielen Menschen die Differenzierung zwischen solchen Vorfällen und dem Islam so schwer?

Mazyek: Ich würde infrage stellen, ob das vielen schwer fällt. Ich habe eher den Eindruck, dass sich das in den letzten Tagen von bestimmten Gruppen ausgehend entladen hat, die vor allem in den sozialen Medien unterwegs waren. Teile der Medien und der Politik haben das in ihrer Hilflosigkeit nicht erkannt. Sie haben diesem Druck nachgegeben und stellen jetzt – ähnlich wie  Pegida – populistische Forderungen. Das "Schweigekartell" zu brechen, war zum Beispiel eine dieser Forderungen. Dabei wurde die letzten zwei Wochen fast nur über den Hauptbahnhof Köln berichtet. Wo ist da bitteschön ein Schweigekartell? Auch Aussagen wie die, "keine falsche Toleranz" mehr zeigen zu wollen, sind verbale Brandbomben, die zu der aktuellen Stimmung beigetragen haben.

Frage: Können Sie die Wut nicht auch verstehen?

Mazyek: Ich würde da schon differenzieren. Was heißt "die Wut"? Es gibt sehr viele Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren, für die Werte unserer Demokratie, die da heißen Solidarität, Mitmenschlichkeit und Mitgefühl. Die haben auch eine Wut, weil sie sehen, dass durch diese kampagnenartigen Diskussionen ihre Arbeit stark in Mitleidenschaft gerät. Und auch die Muslime teilen diese Wut und Angst gegenüber diesen Schändern und Grabschern. Nur wird ihnen das von bestimmten Menschen nicht abgenommen. Es ist auch Aufgabe der Medien, deutlich zu machen, dass die Angst, auf die Straßen zu gehen, auch bei den Muslimen jetzt besonders hoch ist. Denn die Gegenreaktionen erfolgen gegen Muslime und ausländisch aussehende Menschen. Und das ist etwas, das in unserem Land genauso wenig passieren darf.

Frage: Wie erklären Sie sich die Vorfälle in der Silvesternacht?

Mazyek: Es gibt mehrere Gründe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Vorfälle nicht auch ein Stück weit von entsprechenden Gruppen orchestriert waren. Dann war Alkohol mit im Spiel. In den Silvesternächten hat es immer wieder Vorfälle – wenn auch nicht dieser Größenordnung - gegeben. Möglicherweise muss man da auch noch mal ein besonderes Augenmerk auf den Form und Taktik des Einsatzes der Polizei richten, wie man das auch von anderen Großereignissen kennt. Ich habe den Vorschlag gemacht, verstärkt Polizisten mit Migrationshintergrund einzusetzen. Das hätte für die Betreffenden vielleicht noch mal eine ernüchternde oder zusätzlich abschreckende Wirkung.

Aiman Mazyek
Bild: ©dpa / R4200

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland

Frage: Nach bisherigen Ermittlungen handelt es sich bei den Tätern vor allem um Migranten. Wie kommt das?

Mazyek: Ich frage mich, warum man, wenn man nach dem "wieso" fragt, eine Verbindung zu Herkunft und Religion herstellt. Es gab einen ähnlichen Aufschrei und eine Diskussion in unserer Republik, als herauskam, dass in kirchlichen Einrichtungen Missbräuche geschehen sind. Ich will das nicht vergleichen. Aber zurecht wird nicht das Christentum ins Visier genommen, um dieses Vergehen zu analysieren. Kein Glaube der Welt würde so etwas gutheißen. Im jetzigen Zusammenhang wird diese Frage jedoch viel schneller gestellt. Abgesehen davon, hat der Islam eine klare Haltung zu diesen Vergehen: Es ist eine Sünde – und zwar nicht nur Vergewaltigung, sondern auch schon das Betatschen der Frauen.

Frage: Tatsächlich hat es aber in der katholischen Kirche eine breite inner- und außerkirchliche Diskussion über die Missbrauchsfälle gegeben …

Mazyek: Ja, aber die Pädophilie-Fälle wurden nie dem christlichen Glauben angelastet. Man hat jetzt ganz elegant den Punkt ausgeklammert, dass Alkohol eine Rolle gespielt hat und dieser bekanntlich im Islam verboten ist. Das hätte dann schon eine etwas differenziertere Diskussion gegeben. Es ist keine Frage des Glaubens.

Frage: Ich hatte eben auch nicht von Muslimen gesprochen, sondern von Migranten. Es ist ja eine Tatsache, dass ein Großteil der Täter Migranten waren. Warum?

Mazyek: Würden wir in einem anderen Zusammenhang alkoholisierte Jugendliche überführen, zum Beispiel beim Oktoberfest, würden wir nicht sagen, warum gerade die Deutschen. Ich frage mich, warum das entscheidende Erklärungsmodell die Herkunft oder gar die Religion sein soll. Wir müssen doch sozial-gesellschaftlich überlegen. Warum haben wir Menschen, die sich von der Gesellschaft abgewandt haben und meinen, sich nur über kriminelle Machenschaften definieren zu können? Auch müssen wir uns selbstkritisch fragen, was in Teilen der islamischen Welt schiefgegangen ist. Trotz der Aussagen des Propheten "Der beste unter euch ist der, der die Frauen am besten behandelt" gibt es dennoch archaische, patriachalische Gesellschaften oder Gewalt in der Ehe. Da wird eben nicht der Respekt praktiziert, den der Prophet uns vorgeschrieben und vorgelebt hat . Diese Fehlentwicklungen haben auch zum mangelnden Respekt einiger Muslime gegenüber Frauen geführt. Dies beklagen Muslime selbst - wie auch die Bigotterie, bei Vergehen gegen Frauen wegzuschauen. Aber nochmals: Es nicht eine Frage der Religion, allenfalls eines falschen Verständnisses der Religion. So verläuft aber unsere Diskussion hierzulande nicht, denn Muslime werden in Sippenhaft genommen, weil "der Islam" der Flüchtlinge an allem Schuld ist.

„Wir haben das nicht nur verurteilt, sondern wir haben gesagt: Das ist eine Todsünde im Islam!“

—  Zitat: Aiman Mazyek über die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln

Frage: Sie sprechen von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen in Deutschland. Allerdings hatten viele, die in der Kölner Silversternacht kontrolliert wurden, Asylpapiere und sind demnach erst seit wenigen Monaten hier…

Mazyek: Interessant, dass Sie dazu schon eine klare Meinung haben, obwohl Sie die Faktenlage noch gar nicht kennen! Ein Großteil der Täter soll aus Nordafrika, also aus sicheren Herkunftsländern kommen. Unter denen sind auch Menschen, die schon seit vielen Jahren hier leben und die sich ganz bewusst unter die Flüchtlinge mischen. Sie vernichten einfach ihre Papiere. Das ist eine Beobachtung, die ich hier in Berlin mache.

Frage: Wenn Ihre Beobachtungen stimmen, welche Konsequenzen müssen Politik und Gesellschaft dann aus den Ereignissen ziehen?

Mazyek: Wir müssen lernen, dass wir bei solchen Ereignissen nicht direkt nach härteren Gesetzen rufen, sondern fragen, ob die Gesetze überhaupt zum Einsatz kamen. Wir müssen uns fragen, ob wir ausreichend Polizei an den Stellen haben. Das sind nüchterne und zum Teil unpopuläre Fragen. Doch stellen wir diese nicht, endet das Ganze in einer Sündenbock-Diskussion, in der für einige schon längst feststeht: 'Der Muslim ist gewalttätig, Extremist und Sexist obendrein.' Ich hoffe sehr, dass ich nicht Recht habe. Aber das, was da am Montag passiert ist (Angriffe auf Migranten, Anm. d. Redaktion), wird sich in den nächsten Tagen noch weiter Bahn brechen. Man wird sogenannte Wegewärter haben, die Jagd auf Ausländer machen. Und wir werden wieder beklagen müssen, dass es Angriffe auf Flüchtlingsheime gibt. Wir erleben zum Teil eine Sündenbock-Diskussion, die auch den Frauen nicht hilft, die an Silvester zu Opfern wurden. Es gibt zahlreiche Frauen, die Übergriffe und Vergewaltigung am Arbeitsplatz und in der Ehe erleben. Die Diskussionen sollten deshalb nicht mit dem Thema Hauptbahnhof Köln beginnen und dort auch nicht enden.

Frage: Viele Menschen in Deutschland wünschen sich von muslimischer Seite dennoch eine klarere Verurteilung solcher und ähnlicher Vorfälle …

Mazyek: Nochmal: Wir haben das nicht nur verurteilt, sondern wir haben gesagt: Das ist eine Todsünde im Islam! Und wir haben klar gemacht, dass wir doppelt betroffen sind: Weil die Täter bei solchen Übergriffen ja nicht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen unterscheiden. Und weil die ganze Diskussion, die im Anschluss stattfindet, Muslime unter Generalverdacht stellt. Und wenn ich Ihnen das entgegne, dann wird trotzdem morgen wieder die Frage gestellt: Warum verurteilen Sie das nicht klarer?

Frage: Was können die Vertreter der großen Religionen für eine bessere Verständigung und Integration tun?

Mazyek: Weiter in ihren Anstrengungen nicht nachlassen! Ob das die Flüchtlingshilfe ist oder die Bereitschaft, sich öffentlich zu positionieren. Viele haben Angst davor. Trotzdem müssen wir weitermachen. Wir müssen versuchen, beim nächsten Mal gar nicht erst eine Sündenbock-Diskussion entstehen zu lassen. Nüchternheit und Besonnenheit sind gefragt.

Linktipp: Woelki kritisiert Hetze nach Kölner Silvesternacht

Als "widerlich und unverantwortlich" hat Kölns Kardinal Rainer Maria Woelki die "üble Hetze und den blanken Hass" in den Kommentaren zur Kölner Silvesternacht wahrgenommen. Er plädiert dafür, verantwortlich mit der Wahrheit über die Taten umzugehen.
Von Julia-Maria Lauer