Tier mit Nebenwirkungen
Dabei zeigt ein Blick in die lange Laufbahn des Tieres: Ursprünglich war der Sündenbock zumindest dem Namen nach frei von Sünde. Und erst, als er Menschengestalt annahm, fingen die eigentlichen Probleme an.
Der Galopp durch die Geschichte beginnt in der Bibel, im Alten Testament. Da nimmt Gott Moses beiseite und erklärt ihm, wie sein Volk sich künftig von den eigenen Fehltritten befreien kann. Aaron, der Bruder des Mose, soll dabei der erste Zeremonienmeister sein. In den weiteren Hauptrollen: zwei Böcke. Einer wird geschlachtet und dem Herrn geopfert. Dann, so heißt es weiter, müsse Aaron "seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und ihre Fehler bekennen".
Mit den "Sünden der Israeliten" in die Wüste gejagt
Die weitere Anweisung Gottes an die Israeliten lautet, das unglückliche Tier in die Wüste zu jagen, "und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde nehmen". Das jahrtausendealte Ritual war lange Zeit ein zentraler Bestandteil des jüdischen Versöhnungstages Jom Kippur. Der Vorgang des Fortschickens hat sich bis heute in den Wörtern "scapegoat" ("Fluchtbock") und "bouc emissaire" ("ausgeschickter Bock") erhalten, der englischen beziehungsweise französischen Übersetzung des "Sündenbocks".
Wie letzterer Einzug in die deutsche Sprache hielt, ist nicht ganz zweifelsfrei zu klären. Reformator Martin Luther, der dem Volk bekanntermaßen gern aufs Maul schaute, soll den Begriff geprägt haben - auch wenn in seiner Bibelausgabe, wie das "Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten" festhält, nur von einem "ausgesandten Bock" die Rede ist.
Den trieben einer alten Legende zufolge pfiffige Urner über eine soeben fertiggestellte Brücke in der Schöllenenschlucht in der Zentralschweiz. Lange hatten sie zuvor versucht, die riskante Passage beim Aufstieg zum Gotthardpass mittels eines Übergangs zu entschärfen. "Da sell der Tyfel e Brigg bue!" - "Da soll doch der Teufel eine Brücke bauen!", entfuhr es einem verzweifelten Landammann.
Der Gehörnte ließ sich nicht lange bitten, forderte aber eine besondere Maut. Er wolle die Seele desjenigen erhalten, der als erster die Brücke überquere, so der Teufel. Die Urner ließen sich auf den Pakt ein - und jagten anschließend ein Böckchen hinüber, was dem Satan gar nicht schmeckte.
Gewaltausbrüche gegen Juden
Lange bevor diese Legende entstand, gab es allerdings auch schon menschliche Sündenböcke. Bereits die alten Griechen töteten zu bestimmten Zeiten einen Mann und eine Frau, meist Verbrecher, vor den Toren der Stadt, um die Gemeinschaft von Sünde zu reinigen.
Hintergrund: René Girard
Der Anthropologe, Religionsphilosoph und Literaturwissenschaftler René Girard (1923-2015) stammte aus Frankreich und lebte seit 1947 in den USA. Zusammen mit dem Schweizer Dogmatiker Raymund Schwager SJ (1935-2004) prägte Girard mit seiner mimetischen Theorie die Forschung an der Universität Innsbruck/Österreich. Er beschäftigte sich mit der Sündenbock-Theorie und dem Zusammenhang von Religion und Gewalt. Der Sohn eines Konservators im Papstpalast in Avignon konvertierte Ende der 1960er Jahre zum Katholizismus. (luk/KNA)
Ähnlich blutiges Brauchtum ist aus dem fernöstlichen Kulturkreis bekannt. In Tibet etwa wurde ein gemieteter Bettler in ein Fellkleid gezwängt und als Symbol allen Übels mit Schimpf und Schande durch Straßen und Gassen gejagt. Nicht selten kam die gequälte Kreatur dabei zu Tode. Am schlimmsten aber traf es ausgerechnet die Juden, mit denen der Sündenbock aus dem Dunkel der Geschichte trat. Im Mittelalter galten sie als Verursacher von Pest und anderen Seuchen - Pogrome waren die Folge. Auch der unvorstellbare Völkermord der Nationalsozialisten fußte letzten Endes auf der Vorstellung, dass "die Juden" an allen Missständen schuld seien.
Diese Gewaltausbrüche gegen Einzelne oder ganze Gruppen hat der unlängst verstorbene französische Religionsphilosoph Rene Girard mit einer nicht unumstrittenen Theorie zu erklären versucht, wonach Gesellschaften durch Aggression gegen vermeintlich "Fremde" versuchen, von eigenen Konflikten abzulenken, um den inneren Zusammenhalt wieder herzustellen. Aber auch das lehrt der Blick in die Geschichte: Wirklich weitergeholfen hat die Suche nach einem Sündenbock noch nie.